Entscheidungsstichwort (Thema)
Feststellung einer Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Trennung des Kindes von seiner Familie gegen den Willen der Sorgeberechtigten ist erst dann zulässig, wenn das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei einem Verbleiben in oder einer Rückkehr in die Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist. Dies ist der Fall, wenn bereits ein Schaden eingetreten ist, oder wenn eine Gefahr gegenwärtig und in einem solchen Maß vorhanden ist, dass sich bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.
2. Werden Kinder im Haushalt der Eltern hochgradig vernachlässigt und sind unzweifelhaft vorhandene Schädigungen auf physische Entbehrungen und fehlende emotionale Zuwendung zurückzuführen, ist von mangelnder Erziehungseignung auszugehen.
3. Eine Kindeswohlgefährdung, die Anlass zu einem familiengerichtlichen Eingriff in das elterliche Sorgerecht gibt, kann sich auch aus der Summe einer Vielzahl von Einzelaspekten ergeben.
Verfahrensgang
AG Northeim (Aktenzeichen 2 F 61/20) |
Tenor
1. Unter Zurückweisung der Beschwerde der Beteiligten zu 7. gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Northeim vom 04.03.2021 wird dieser über die bereits mit der angefochtenen Entscheidung entzogenen Sorgerechtsbereiche hinaus ferner der Sorgerechtsbereich der schulischen Angelegenheiten für K1, geboren am ...2009, K2, geboren am ...2010, K3, geboren am ...2011, K4, geboren am ...2013, und K5, geboren am ...20216, entzogen.
2. Mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beteiligten zu 8., die dieser selbst zu tragen hat, trägt die Beteiligte zu 7. die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Beteiligte zu 7. gegen den Entzug von Teilen der elterlichen Sorge für ihre fünf Kinder.
Aus der Beziehung der Beteiligten zu 7. (im Folgenden Mutter genannt) und des Beteiligten zu 8. (im Folgenden Vater genannt) sind die gemeinsamen Kinder K1 (11 Jahre), K2 (10 Jahre), K3 (9 Jahre), K4 (8 Jahre) und K5 (5 Jahre) hervorgegangen. Bis zu ihrer Fremdunterbringung am 18.02.2020 lebten die Kinder im elterlichen Haushalt.
Die Eltern lernten einander im Jahr 2006 anlässlich der Jugendweihe der Mutter näher kennen, zu deren Feier der Vater als Freund der Familie mit seiner damaligen Ehefrau eingeladen war. Die Mutter war bei Aufnahme der zunächst heimlich geführten Beziehung 14 Jahre alt, der Vater war 42 Jahre alt.
Die Mutter hatte zuvor im Alter von 12 Jahren bereits für die Dauer von etwa einem Jahr eine Beziehung zu einem anderen über vierzigjährigen Mann unterhalten. Der Vater war zuvor mit seiner ersten Ehefrau, die drei Jahre jünger ist als er selbst, für die Dauer von fast 25 Jahren verheiratet. Aus deren Ehe sind vier Kinder hervorgegangen. Der Vater trennte sich anlässlich der Aufnahme der Beziehung mit der Mutter. Darüber hinaus ist er Vater eines weiteren außerehelichen Kindes. Zu diesen fünf Kindern besteht seit der Aufnahme der Beziehung der Beteiligten zu 7. und 8. kein Kontakt mehr.
Als die Großmutter mütterlicherseits die Beziehung ihrer minderjährigen Tochter zu dem 28 Jahre älteren Mann bemerkte, zog sie mit ihrer Familie von W. nach H., um eine räumliche Distanz zu schaffen. Gleichwohl blieb der Kontakt der Familien bestehen. Kurz nach dem 17. Geburtstag der Mutter holte der Vater diese heimlich aus H. ab. Sie gingen sodann gemeinsam nach B. und begründeten dort einen gemeinsamen Haushalt. Die Mutter, die bis dahin die 10. Klasse einer allgemeinbildenden Regelschule besuchte, brach daraufhin ihre Schulausbildung ab und absolvierte auch keine Berufsausbildung.
Seit ihrer Jugend leidet die Mutter unter einer Angststörung, die sie daran hindert, allein die Wohnung zu verlassen, etwa um einkaufen zu gehen. Darüber hinaus beeinträchtigten mehrere depressive Episoden der Mutter den familiären Alltag erheblich. Der Vater ging daher seit der Geburt von K1, die etwa ein Jahr nach dem Umzug nach B. geboren wurde, keiner Erwerbstätigkeit mehr nach, um die Mutter bei der Betreuung und Versorgung von K1 und später aller Kinder sowie der Haushaltsführung zu unterstützen.
Nach der Geburt des dritten Kindes, K3, zog die Familie in die Nähe von C. und im weiteren Verlauf nach H. in eine andere Wohnung in demselben Haus, in dem auch die Großmutter mütterlicherseits lebte. Es erfolgten mehrere Kindeswohlgefährdungsmitteilungen der Großmutter an das Jugendamt, denen zufolge die Eltern die Kinder vernachlässigen und diese nicht ausreichend mit Nahrung versorgen sollen. Die Familie bewohnte daraufhin zunächst lediglich noch einen einzigen Raum ihrer Fünfzimmerwohnung, von dem aus die Großmutter etwa nächtliches Schreien der Kinder nicht mehr hören konnte. Ende 2013 zog die Familie den Schilderungen der Mutter zufolge auf Rat des Jugendamts aus H. weg zunächst nach S. bei U., um die rege...