Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwendige Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO
Leitsatz (amtlich)
1. Auch nach der Änderung des § 140 Abs. 2 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 stellt die Rechtsfolgenerwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe keine starre Grenze für die "Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge" dar, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich ist.
2. Die Strafaussetzung der verhängten Freiheitsstrafe von 1 Jahr zur Bewährung stellt einen gewichtigen Umstand dar, der es im Einzelfall rechtfertigen kann, von einer Beiordnung abzusehen, wenn die Voraussetzungen des § 331 Abs. 1 StPO vorliegen.
3. Anhängige Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten, in denen noch keine Anklage erhoben worden ist, bleiben bei der Bewertung unberücksichtigt.
4. Die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 6.000 € ist keine derart schwere Rechtsfolge, die die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfordert.
Normenkette
StPO § 140 Abs. 2, § 331 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Göttingen (Entscheidung vom 23.08.2021; Aktenzeichen 3 Ns 24/21) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der Vorsitzenden der 3. kleinen Strafkammer des Landgerichts Göttingen vom 23. August 2021 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Northeim verurteilte den bis dahin lediglich mit Geldstrafen vorbestraften Angeklagten am 3. März 2021 erstinstanzlich wegen Betruges in sechs Fällen, davon in vier Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung, unter Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Northeim vom 15. Juli 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Daneben hat das Amtsgericht die Einziehung des Wertes des Taterlangten in Höhe von 6.029,00 € angeordnet. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen hat der Angeklagte zwischen dem 24. Dezember 2018 und dem 8. Februar 2019 insgesamt sechs Mobilfunkverträge unter Verwendung fremder Personalien ohne Einverständnis der betroffenen Personen abgeschlossen, um so diverse Mobilfunkgeräte (Smartphones, Tablets) zu erlangen, ohne die hierfür anfallenden Kosten zu bezahlen. Das Amtsgericht hatte im Rahmen der Beweisaufnahme 2 Zeugen vernommen. Der Angeklagte hat gegen das Urteil vom 3. März 2021 rechtzeitig Berufung eingelegt. Das Landgericht Göttingen beraumte Termin zur Berufungsverhandlung zunächst (nur) auf den 26. August 2021 an und lud die beiden erstinstanzlich vernommenen Zeugen zum Termin. Mit Schriftsatz vom 19. August 2021 beantragte der Wahlverteidiger, bei gleichzeitiger Niederlegung des Wahlverteidigermandates, dem Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Mit Entscheidung vom 23. August 2021 lehnte die Vorsitzende der 3. kleinen Strafkammer des Landgerichts Göttingen die Beiordnung ab. Mit Schriftsatz vom 24. August 2021, eingegangen beim Landgericht am selben Tag, hat der Verteidiger für den Angeklagten sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung der Vorsitzenden eingelegt. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft in erster Instanz auf eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten mit Bewährung plädiert und das Amtsgericht auf eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr mit Bewährung erkannt habe, eine Beiordnung rechtfertige. Darüber hinaus seien weitere Verfahren gegen den Angeklagten bei der Staatsanwaltschaft anhängig, die im Falle einer Verurteilung gesamtstrafenfähig seien. Zugleich beantragte der Verteidiger die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins vom 26. August 2021, was seitens der Vorsitzenden abgelehnt wurde. Der Wahlverteidiger des Angeklagten nahm an der Berufungsverhandlung am 26. August 2021 teil.
Mit undatierter Verfügung der Vorsitzenden, die am 27. August 2021 ausgeführt wurde, lud die Vorsitzende 3 weitere Zeugen zu einem Fortsetzungstermin am 2. September 2021. Des Weiteren ergibt sich aus einem Vermerk der Vorsitzenden, dass die bereits für den 26. August 2021 geladene Zeugin S. ebenfalls zu dem Fortsetzungstermin am 2. September 2021 geladen wurde. Weiter ließ die Vorsitzende insgesamt 70 Blatt Ablichtungen aus zwei Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft anfertigen und als Selbstleseband anlegen. Schließlich bat sie die V. GmbH per Fax um zügige Übersendung der Vertragsunterlagen zu zwei näher bezeichneten Rechnungen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuschrift vom 6. September 2021 beantragt, die sofortige Beschwerde des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.
Mit am 9. September 2021 an das Oberlandesgericht übermittelten Schriftsatz hat der Verteidiger mitgeteilt, dass die Berufungsverhandlung gegen den Angeklagten am dritten Hauptverhandlungstag am 7. September 2021 ausgesetzt worden sei. Grund dafür seien noch vorzunehmende Nachermittlungen, die wegen anstehender Urlaube seiner Person sowie eines Schöffen nicht innerhalb der gesetzlichen Unterbrechungsfristen vorgenommen werden könnten. Es sei am 26. August 2021 für vier St...