Leitsatz (amtlich)
1. Liegt der Wert des Beschwerdegegenstandes im Berufungsverfahren unterhalb des erstinstanzlichen Streitwerts und der Erwachsenheitssumme des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, ist das Berufungsgericht nicht an der Nachholung der Berufungszulassung gehindert, wenn die Kammer des Erstgerichts den Rechtsstreit gem. § 348 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ZPO übernommen hat, da die Voraussetzungen der Berufungszulassung gem. § 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO insoweit inhaltsgleich sind.
2. Eine missbräuchliche Verfolgung eigener Interessen auf Kosten des Vertragspartners ist nicht allein darin zu sehen, dass der Betreiber einer Kommunikationsplattform allgemeinverbindliche Kommunikationsstandards aufstellt, die auch unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegende Meinungsäußerungen der Nutzer sanktionieren.
3. Beim vorzunehmenden Ausgleich der in ihrer Wechselwirkung nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu erfassenden Grundrechtsverhältnisse sind neben dem Recht auf freie Meinungsäußerung des Nutzers einer Kommunikationsplattform gemäß Art. 5 Abs. 1 GG die Freiheits- und Eigentumsrechte des Betreibers gemäß Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1, 5 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG einzubringen.
4. Wegen der Besonderheit der digitalen Netzwerkkommunikation ist der Kreis der zu berücksichtigenden Grundrechtsträger erweitert: Auch die freiheits- und gleichheitsrechtlichen Belange anderer Nutzer sind insoweit zu berücksichtigen, als diese darauf vertrauen dürfen, dass der Betreiber einer Kommunikationsplattform die Sanktionierung von Verstößen gegen die Kommunikations-standards nicht willkürlich vornimmt oder unterlässt.
5. Die Sanktionierung von Verstößen gegen die Kommunikations-standards durch den Betreiber darf aus gleichheitsrechtlichen Gründen (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht willkürlich und ohne sachlichen Grund erfolgen.
6. Eine Auslegungsregel bei mehrdeutigen kontextbezogenen Meinungsäußerungen besteht von Verfassungs wegen nicht, wenn der Nutzer vom Betreiber die Wiedereinstellung eines Posts verlangt, den dieser auf Grundlage wirksamer Kommunikationsstandards gelöscht hat. Die Würdigung und Auslegung des Posts ist vielmehr Gegenstand der freien richterlichen Feststellungen im konkreten Einzelfall.
Normenkette
BGB §§ 241-242, 280, 305c, 307-308; EUV 2016/679 Art. 6; EUV 2016/679 Art. 82; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1; NetzDG §§ 1, 3; ZPO §§ 348, 511 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Braunschweig (Urteil vom 11.12.2019; Aktenzeichen 9 O 4199/18) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 11. Dezember 2019 - Az. 9 O 4199/18 - abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
II. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 11. Dezember 2019 - Az. 9 O 4199/18 - wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen trägt der Kläger.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die gegen ihn gerichtete Zwangsvollstreckung wegen der Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
VI. Die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung des Landgerichts Braunschweig wird von Amts wegen abgeändert und der Streitwert auf eine Gebührenstufe bis zu 4.000,00 EUR festgesetzt.
VII. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf eine Gebührenstufe bis zu 4.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
A. Die Parteien streiten über eine am 3.6.2018 von der Beklagten veranlasste 30tägige beschränkte Sperrung eines privaten Facebook- Nutzerkontos des Klägers und die Löschung seines Beitrages (Post), mit dem dieser den Kommentar "Defend Europe!!!" eines Dritten (R.) zu einem verlinkten Spiegel-Online Artikel mit der Überschrift "Privates Rettungsschiff "Aquarius" kehrt ins Mittelmeer vor Lybien zurück" seinerseits mit den Worten "Den Schrott versenken, das ist ein illegales Schlepperschiff" kommentierte. Der Kläger verlangt die Feststellung der Rechtwidrigkeit der beschränkten Sperrung, die Wiedereinstellung des gelöschten Posts, die Unterlassung weiterer Sperrungen und Löschungen, die Erteilung verschiedener Auskünfte, Schadensersatz sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
Der Kläger wurde wie alle Nutzer per E- Mail und mit seinem ersten Zugriff auf sein Nutzerkonto ab dem 19.4.2018 mit einer Pop-Up- Nachricht über die aus den Nutzungsbedingungen und Gemeinschaftsstandards bestehenden Geschäftsbedingungen zur Nutzung des von der Beklagten betriebenen sozialen Netzwerks in der seit 19.4.2018 geltenden Fassung informiert. Eine weitere Nutzung des Facebook- Nutzerkontos konnte erst nach der vom Kläger am 24.4.2018 erteilten Zustimmung erfolgen.
Hinsichtlich der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstands erster Instanz und der gestellten Anträge wird auf ...