Entscheidungsstichwort (Thema)
Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 384 Nr. 2 Alt. 2 ZPO auch bei vorheriger Einlassung
Leitsatz (amtlich)
1. Einem Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 384 Nr. 2 Alt. 2 ZPO steht nicht entgegen, dass sich der Zeuge in einem gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahren gegenüber der Staatsanwaltschaft umfassend als Beschuldigter eingelassen hat.
2. Die Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne des § 384 Nr. 2 Alt. 2 ZPO bezüglich der in einem Zivilprozess anstehenden Aussage kann grundsätzlich nicht dadurch "entfallen", dass aufgrund einer früheren Aussage oder Einlassung des Zeugen ohnehin schon eine Gefahr der Strafverfolgung besteht; insoweit unterscheidet sich § 384 Nr. 2 Alt. 2 ZPO von § 383 Abs. 1 Nr. 5 ZPO.
3. Der Streitwert eines Zwischenstreits über ein Zeugnisverweigerungsrecht in einem Kapitalanleger-Musterverfahren hängt u. a. davon ab, ob die Beweisaufnahme für alle Ausgangsverfahren gleichermaßen relevant sein wird und ob sich der Zeuge in einem solchen Zwischenstreit einem Kostenrisiko ausgesetzt sieht, das ihn in dieser Höhe in den Ausgangsverfahren kaum treffen könnte.
Normenkette
GKG §§ 1, 47 Abs. 1 S. 1; StGB §§ 13, 78 Abs. 3 Nr. 4, §§ 78c, 153; StPO § 55 Abs. 1, §§ 136, 153a, 161 Abs. 1 S. 3, § 163 Abs. 3 S. 3, § 254 Abs. 1; ZPO §§ 3, 91, 100, 138 Abs. 1, § 269 Abs. 3, §§ 291, 294, 383 Abs. 1 Nr. 5, §§ 383, 384 Nr. 2, §§ 384, 386 Abs. 1, § 387
Verfahrensgang
LG Braunschweig (Aktenzeichen 5 OH 62/16) |
Tenor
1. Der Zeuge ist gemäß § 384 Nr. 2 Alt. 2 ZPO berechtigt, bezüglich der folgenden Beweisthemen das Zeugnis umfassend zu verweigern:
(...)
2. Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei; die Musterklägerin, die Musterbeklagte zu 1) und die Musterbeklagte zu 2) haben die notwendigen Auslagen des Zeugen zu jeweils einem Drittel zu tragen.
3. Der Wert des Streitgegenstands des Zwischenstreits wird festgesetzt auf 1.500.000,00 EUR.
Gründe
I. Die verbliebenen Parteien des Zwischenstreits - nachdem die Musterklägerin ihren Antrag zurückgenommen hat: der Zeuge und die Musterbeklagten - streiten über das Recht des Zeugen, in dem Kapitalanleger-Musterverfahren gemäß § 384 Nr. 2 Alt. 2 ZPO das Zeugnis umfassend zu verweigern.
Mit Beweisbeschluss vom 7. Juli 2023 ("Beweisbeschluss I", Bl. 4215-4282, Bd. XVIII d. A.) hat der Senat unter anderem beschlossen, dass der Zeuge zu den aus dem Tenor ersichtlichen Beweisthemen vernommen werden soll. Mit Verfügung vom 10. Juli 2023 (Bl. 4293 ff. Bd. XVIII d. A.) hat der Senat den Zeugen von der beabsichtigten Vernehmung zu den genannten Beweisthemen unterrichtet.
Daraufhin hat der Zeuge mitgeteilt, dass er sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 384 Nr. 2 ZPO berufe, welches vorliegend zu einem umfassenden Zeugnisverweigerungsrecht erstarke. Die aus dem Schreiben vom 10. Juli 2023 ersichtlichen Beweisthemen ständen in einem direkten Zusammenhang mit dem gegen den Zeugen geführten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft ... zur Diesel-Abgasthematik. Der Zeuge sei einer der wenigen weiterhin Beschuldigten in diesem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft ... (Az. ...); gegen viele andere Beschuldigte seien die Verfahren nach § 153a Abs. 1 StPO mit Zustimmung des Landgerichts ... eingestellt worden. Dem Zeugen werde in dem genannten Ermittlungsverfahren Betrug, strafbare Werbung und mittelbare Falschbeurkundung vorgeworfen. Es bestehe die Gefahr, dass etwaige Aussagen des Zeugen zu den genannten Beweisthemen in dem Ermittlungsverfahren gegen ihn verwendet werden könnten. Jede mögliche Kenntnis oder Unkenntnis des Zeugen von den Behauptungen der Parteien im Musterfeststellungsverfahren könnte dem Zeugen strafrechtlich vorgehalten werden, insbesondere da es im Ermittlungsverfahren auch um Begehen durch Unterlassen gehe (§ 13 StGB), also den Vorwurf, der Zeuge habe trotz seiner Position im Unternehmen bestimmte Handlungen nicht verhindert.
Außerdem lebe der Zeuge seit längerem nicht mehr in Deutschland und habe auch keine deutsche Staatsangehörigkeit, so dass er nicht verpflichtet sei, einer Zeugenladung Folge zu leisten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 16. August 2023 nebst Anlage und vom 1. November 2023 (Bl. 4563 f. Bd. XIX und Bl. 5216 f. Bd. XXIII d. A.) Bezug genommen.
Dem sind die Musterparteien entgegengetreten.
Die Musterklägerin hatte zunächst beantragt,
im Wege des Zwischenurteils festzustellen, dass sich der Zeuge in Bezug auf die Beweisthemen ... des Beweisbeschlusses vom 7. Juli 2023 nicht mit Erfolg auf ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht berufen könne.
Die Musterklägerin ist der Ansicht, es sei nicht glaubhaft gemacht, dass der Zeuge ins Ausland verzogen sei. Da der Zeuge nach wie vor bei der Musterbeklagten zu 1) beschäftigt sei, habe diese den aktuellen Wohnort des Zeugen mitzuteilen. Der Zeuge sei zu laden, hilfsweise im Ausland zu vernehmen. Der Vortrag des Zeugen zu seinem angeblichen Zeugnisverweigerungsrecht sei unsubstantiiert; die Berechtigung der Weigerung müsse auf der Grundlage der ...