Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Einfluss der Pandemie in Folge der Verbreitung des Corona-Virus (SARS-CoV-2) auf den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen und die Durchführung von Hauptverhandlungen. Strafrecht. Strafprozessrecht. Untersuchungshaft. Beschleunigungsgrundsatz. Pandemie in Folge der Verbreitung des Corona-Virus (SARS-CoV-2)
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft ist stets eine Abwägung zwischen dem grundrechtlich gewährleisteten Freiheitsrecht des Betroffenen und dem unabweisbaren Bedürfnis der Allgemeinheit nach einer wirksamen Strafverfolgung vorzunehmen. In die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist als weitere Abwägungsebene das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG grundrechtlich geschützte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aller Prozessbeteiligter einzubeziehen, soweit die Durchführung der Hauptverhandlung oder ihre Ausgestaltung diese Rechte nachhaltig berühren können.
2. In der gegebenen Situation, in der von Menschenansammlungen eine erhöhte Gefahr der Infektion mit einem Krankheitserreger ausgeht, obliegt dem Vorsitzenden bei der Wahrnehmung der ihm gemäß §§ 213, 238 StPO zugewiesenen Aufgaben gegenüber allen Prozessbeteiligten eine Schutzpflicht. Diese erfordert Gesundheitsgefahren, die von der Durchführung einer Hauptverhandlung ausgehen können, im gebotenen Umfang abzuwenden. Dies kann im Einzelfall auch ein einstweiliges Absehen von den entsprechenden Verhandlungsterminen erforderlich machen.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2; StPO §§ 112, 213, 238
Verfahrensgang
LG Bremen (Entscheidung vom 18.02.2020; Aktenzeichen 5 KLs 120 Js 75726/16 (3/18) |
Tenor
Die Beschwerde des Angeklagten Y. vom 25.02.2020 gegen den Beschluss der Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen vom 18.02.2020 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Gründe
I.
Der Angeklagte Y. wendet sich gegen eine erneute Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft.
Vor dem Landgericht Bremen wird gegen die Angeklagten ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs der gemeinschaftlichen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verhandelt.
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bremen vom 12.01.2018 legt den Angeklagten zur Last, in der Zeit vom 26.04.2016 bis in die frühen Morgenstunden des 28.04.2016 durch dieselbe Handlung gemeinschaftlich den Zeugen Ö. entführt zu haben, um ihn durch die Drohung mit dem Tod zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen und den Zeugen Ö. gemeinschaftlich mittels eines hinterlistigen Überfalls, unter Einsatz eines gefährlichen Gegenstandes und mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung misshandelt und an der Gesundheit verletzt zu haben.
Das Geschehen, das den Angeklagten mit Anklageschrift vom 12.01.2018 im Einzelnen zur Last gelegt wird, hat der Senat im Beschluss vom 28.10.2019 - Az. 1 Ws 131/19 u.a. - dargestellt; hierauf wird Bezug genommen.
Im Ermittlungsverfahren erließ das Amtsgericht Bremen am 27.06.2017 zunächst gegen die Angeklagten B., D. und A. - neben anderen gesondert Verfolgten - Untersuchungshaftbefehle wegen des dringenden Tatverdachts der gemeinschaftlichen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, gegen den Angeklagten D. ergänzt um den Vorwurf des tateinheitlich begangenen Raubes. Am 13.07.2017 ordnete das Amtsgericht Bremen die Untersuchungshaft auch gegen den Angeklagten Y. wegen des Vorwurfs der gemeinschaftlichen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung an. Das Amtsgericht stützte die Haftbefehle jeweils auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO).
Die Angeklagten wurden am 24.10.2017 festgenommen und befinden sich seither in Untersuchungshaft.
Während des Ermittlungsverfahrens wies die Strafkammer 8 des Landgerichts Bremen mit Beschluss vom 08.11.2017 - 8 Qs 340/17 - eine Beschwerde des Angeklagten A. gegen den Haftbefehl und mit Beschluss vom 06.12.2017 - 8 Qs 372/17 - eine Beschwerde des Angeklagten D. gegen den Haftbefehl jeweils als unbegründet zurück. Auf den Haftprüfungsantrag des Angeklagten B. hin ordnete das Amtsgericht Bremen zudem mit Beschluss vom 22.11.2017 - 92a Gs 561/17 - die Fortdauer der Untersuchungshaft mit der Maßgabe an, dass der Haftbefehl vom 27.06.2017 nur noch auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gestützt werde.
Die Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen hat mit Eröffnungsbeschluss vom 20.03.2018 die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Zugleich wurde mit diesem Beschluss die Fortdauer der Untersuchungshaft für alle vier Angeklagten angeordnet.
Die Hauptverhandlung hat am 12.04.2018 begonnen und zunächst bis zum 15.10.2019 an 68 Sitzungstagen stattgefunden. Die Hauptverhandlung dauert weiterhin an.
Mit Beschluss vom 24.07.2019 hat die Strafkammer 5 entschieden, die Haftbefehle gegen alle vier Angeklagten aufrecht zu erhalten und in Vollzug zu belassen. Mit weiterem Beschluss vom 18.09.2019 ordnete die Strafkammer erneut ...