Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindeswohlgefährdung, Anordnung der Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen, videogestützte Interaktionsdiagnostik, Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit familiengerichtlicher Auflagen
Leitsatz (amtlich)
1. Die einem Elternteil erteilte Auflage zur Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (hier: Teilnahme an einer videogestützten Interaktionsdiagnostik) stellt keine zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung geeignete Maßnahme des Familiengerichts dar, wenn der Elternteil die Maßnahme ablehnt und nicht bereit ist, mit deren Träger zusammenzuarbeiten.
2. Zu Voraussetzungen und Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung ausgesprochener familiengerichtlicher Gebote, öffentliche Hilfen in Anspruch zu nehmen.
Normenkette
BGB § 1666 Abs. 1, 3 Nr. 1
Verfahrensgang
AG Bremen (Beschluss vom 14.08.2009; Aktenzeichen 60 F 1978/08) |
Tenor
Der Beschluss des AG - Familiengericht - Bremen vom 14.8.2009 wird auf die Beschwerde der Kindesmutter aufgehoben.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000 EUR festgesetzt.
Der Kindesmutter wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt [...] bewilligt.
Gründe
Das am [...] 2004 geborene Kind [...] stammt aus der nichtehelichen Beziehung der Kindeseltern. Diese haben sich etwa sechs Monate nach seiner Geburt getrennt. Seitdem lebt das Kind im Haushalt der sorgeberechtigten Kindesmutter.
Am 10.7.2008 hat das Amt für Soziale Dienste [...] (nachfolgend: Jugendamt) beim Familiengericht beantragt, der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht der Gesundheitsfürsorge und das Recht zur Beantragung öffentlicher Hilfen nach dem SGB VIII als Teilrechte der Personensorge für das Kind zu entziehen. Begründet hat es den Antrag insbesondere damit, dass ein nach kurzzeitiger (vom 17.6.2008 bis zum 19.6.2008) Inobhutnahme des Kindes im Haushalt der Kindesmutter eingeleiteter Krisendiensteinsatz am 9.7.2008 ergeben habe, dass die Kindesmutter psychisch auffällig sei, sich aggressiv verhalte und Unterstützung in Form einer Familienhilfe ablehne, das Kind Auffälligkeiten in seinem Verhalten und seinen Sprachkompetenzen aufweise, und dass das Kindeswohl ambulant nicht mehr zu sichern sei. Das Familiengericht hat daraufhin zunächst mit Beschluss vom 10.7.2008 der Kindesmutter im Wege einstweiliger Anordnung die dem Antrag des Jugendamts entsprechenden Teilrechte der elterlichen Sorge entzogen und sie dem Jugendamt als Pfleger übertragen. Mit Beschluss vom 8.8.2008 hat das Familiengericht sodann die Einholung eines familienpsychologischen Sachverständigengutachtens zur Erziehungsfähigkeit der Kindesmutter und zu der Frage, welche Hilfemaßnahmen gegebenenfalls zur Abwehr etwaiger Gefahren für das Kindeswohl erforderlich seien, beschlossen. Mit weiterem Beschluss vom 13.8.2008 hat es seine einstweilige Anordnung vom 10.7.2008 aufgehoben und der Kindesmutter für die weitere Verfahrensdauer Auflagen erteilt (Benennung des Kindergartens und Sicherstellung regelmäßigen Kindergartenbesuchs, Benennung des behandelnden Kinderarztes und Entbindung desselben von der Schweigepflicht, Wahrnehmung geplanter Termine zur Untersuchung des Kindes im Sozialpädiatrischen Institut und Mitteilung der Ergebnisse). Das Kind war in der Zeit vom 9.7.2008 bis zum 15.8.2008 fremduntergebracht.
Die vom Familiengericht beauftragte Sachverständige ist in ihrem schriftlichen Gutachten vom 21.1.2009, auf dessen Inhalt wegen der Einzelheiten im Übrigen Bezug genommen wird, zu dem Ergebnis gelangt, dass keine Kindeswohlgefährdung vorliege, die aktuell eine erneute Herausnahme des Kindes aus dem mütterlichen Haushalt notwendig mache. Zugleich hat sie den Erwerb positiv korrigierender Beziehungs- und Bindungserfahrungen des Kindes als erforderlich bezeichnet, weil das Kind im Zusammenhang mit einer von ihr festgestellten unsicheren Bindung an die Kindesmutter "von der Entwicklung einer Bindungsstörung mit möglicherweise psychopathologischen Folgen bedroht" sei (Bl. 248 d.A.). Vor diesem Hintergrund hat die Sachverständige der Kindesmutter für eine weitere, günstige Entwicklung des Kindes und der Mutter-Kind-Beziehung - neben einer psychotherapeutischen Maßnahme und der Teilnahme an einem sog. "Triple-P"-Programm - dringend empfohlen, ein spezifisches Beratungsangebot mit Schwerpunkt auf der Eltern-Kind-Beziehung und mit integrierter videogestützter Interaktionsdiagnostik in Anspruch zu nehmen. Zu diesen Maßnahmen hat die Sachverständige in ihrem Gutachten ausgeführt (Bl. 249 d.A.), sie seien "aus sachverständiger Perspektive notwendig und sollten durchgeführt werden, da sonst von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen ist." In dem am 5.5.2009 vor dem Familiengericht durchgeführten Anhörungstermin hat die Sachverständige die videogestützte Interaktionsdiagnostik als "das wichtigste Element" b...