Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwerfung der Berufung bei Abwesenheit des Angeklagten trotz Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers. Strafprozessrecht. Verwerfung der Berufung. Abwesenheit des Angeklagten. Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers
Leitsatz (amtlich)
1. Auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 08.11.2012 (EGMR Nr. 30804/07) steht allein die Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers der Anwendung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht entgegen.
2. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO enthält eine Öffnungsklausel für sämtliche Fälle der gesetzlich vorgesehenen zulässigen Vertretung durch einen Verteidiger. Die der Entscheidung des EGMR zugrunde liegende Konstellation ist jedoch deshalb nicht als (weiterer) zulässiger Vertretungsfall i.S. der genannten Norm anzusehen, weil eine derartige Auslegung zwar nicht dem Wortlaut, aber dem sich aus dem Regelungszusammenhang der Vorschrift ergebenden eindeutig entgegenstehenden Willen des nationalen Gesetzgebers widerspricht.
Normenkette
StPO § 329 Abs. 1 S. 1; EMRK Art. 6 Abs. 1, 3 c
Verfahrensgang
LG Bremen (Entscheidung vom 16.11.2012; Aktenzeichen 51 Ns 211 Js 17627/11) |
Tenor
1. Auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft wird die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bremen vom 16.11.2012 als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).
2. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Gründe
I.
Der Angeklagte wurde mit Urteil des Amtsgerichts Bremen vom 16.09.2011 wegen Sachbeschädigung und versuchten Wohnungseinbruchsdiebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Auf die rechtzeitig eingelegte Berufung des Angeklagten bestimmte das Landgericht Bremen - Strafkammer 51 - Termin zur Hauptverhandlung auf den 16.11.2012. Zu diesem Termin erschien der ordnungsgemäß geladene Angeklagte ohne Angaben von Gründen nicht. Erschienen war indessen der Verteidiger des Angeklagten, der sich bereits am 07.02.2012 unter Vorlage einer von dem Angeklagten unterschriebenen Vollmacht zur Akte gemeldet hatte. Das Landgericht verwarf sodann die Berufung durch das angefochtene Urteil nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO.
Der Verteidiger erhebt mit seiner rechtzeitig eingelegten und begründeten Revision die allgemeine Sachrüge. Mit seiner ebenfalls eingelegten Verfahrensrüge rügt er die Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO. Er trägt insoweit vor, dass es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gegen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3c EMRK verstoße, die Berufung des Angeklagten zu verwerfen, wenn ein verteidigungsbereiter Verteidiger anwesend sei.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
II.
1. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der in allgemeiner Form erhobenen Sachrüge lässt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.
2. Auch die gleichzeitig erhobene Verfahrensrüge verhilft der Revision nicht zum Erfolg. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 08.11.2012 im Rahmen einer Individualbeschwerde des serbischen Staatsangehörigen Herrn N. gegen die Bundesrepublik Deutschland (Az.: 30804/07 - zitiert bei juris) entschieden, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK vorliege, wenn nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO die Berufung des ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache verworfen werde, obwohl ein verteidigungsbereiter Verteidiger erschienen sei. Die allein darauf gestützte Verfahrensrüge greift jedoch nicht durch.
Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge. Der Bundesgesetzgeber hat ihnen jeweils mit förmlichem Gesetz gem. Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt. Damit hat er sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht die Europäische Menschenrechtskonvention im Range eines Bundesgesetzes (BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, - 2 BvR 1481/04 -, zitiert bei juris). Dies gilt auch für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (BVerfG, Beschluss vom 20.06.2012, 2 BvR 1048/11, zitiert bei juris, dort Rdn. 91; BVerfG, NStZ 2011, 450).
a) Dem oben genannten Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.11.2012 kommt in dem vorliegenden Verfahren keine unmittelbare Bindungswirkung zu. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte haben eine besondere Bedeutung für das Konventionsrecht als Völkervertragsrecht, weil sich in diesen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle widerspiegelt. Die Vertragsparteien haben sich durch Art. 46 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolge...