Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Unzulässigkeit einer Auslieferung nach Ungarn bei Verletzung von Zusicherungen bzw. erteilten Erklärungen der Behörden des um die Auslieferung ersuchenden Staates in früheren Auslieferungsverfahren und bei nicht gesicherter Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens nach einem Abwesenheitsurteil
Leitsatz (amtlich)
1. Haben die Behörden des um eine Auslieferung ersuchenden Staates in vorangegangenen Auslieferungsverfahren erteilte Zusicherungen bzw. Erklärungen und mit der Auslieferungsentscheidung verbundene Bedingungen nicht eingehalten, so ist das Vertrauen in weitere Erklärungen und Auskünfte der Justizbehörden des ersuchenden Staates erschüttert, wenn keine Aufklärung dieser Vorgänge erfolgt.
2. Kann den Erklärungen und Auskünften der Behörden des ersuchenden Staates kein Vertrauen geschenkt werden, so können auch nicht auf der Grundlage dieser Erklärungen anderweitig bestehende Auslieferungshindernisse ausgeräumt werden.
3. Konkret: Da seitens der ungarischen Behörden die in einem früheren Auslieferungsverfahren bezüglich desselben Verfolgten erteilte Erklärung seiner Inhaftierung in einer bestimmten Justizvollzugsanstalt nicht eingehalten wurde, ohne dass dies seitens der ungarischen Behörden aufgeklärt worden wäre, kann erneuten Erklärungen und Auskünften bezüglich der Haftbedingungen des Verfolgten in einem weiteren Auslieferungsverfahren kein Vertrauen geschenkt werden. Eine Auslieferung ist daher aufgrund der bekannten allgemeinen und systemischen Mängel hinsichtlich der Haftbedingungen in der Republik Ungarn unzulässig nach § 73 S. 2 IRG.
4. Die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens führt nicht zur ausnahmsweisen Zulässigkeit einer Auslieferung zur Strafvollstreckung aufgrund eines Abwesenheitsurteils nach § 83 Abs. 4 IRG, wenn die Frist zur Einlegung dieses Rechtsbehelfs auch ohne erneute Zustellung bereits aufgrund des Verstreichens von 30 Tagen seit Kenntniserlangung von dem Urteil abgelaufen ist.
Normenkette
IRG §§ 29, 32, 73 S. 2, § 83 Abs. 4
Tenor
Die Auslieferung des Verfolgten ... an die Republik Ungarn zum Zwecke der Strafvollstreckung wegen der dem Europäischen Haftbefehl des Gerichtshofs Nyiregyháza vom 19.11.2019 zugrunde liegenden Verurteilung durch das Amtsgericht Nyiregyháza mit Urteil vom 08.06.2017 in der Form des Urteils des Gerichtshofs Nyiregyháza vom 02.02.2018 wird für unzulässig erklärt.
Gründe
I.
1. Die ungarischen Justizbehörden ersuchen mit einem Europäischen Haftbefehl des Gerichtshofs Nyiregyháza vom 19.11.2019 um die Festnahme und Übergabe des Verfolgten zum Zweck der Strafvollstreckung. Zweck ist die Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten von ursprünglich drei Jahren aus dem Urteil des Amtsgerichts Nyiregyháza vom 08.06.2017 in der Form des Urteils des Gerichtshofs Nyiregyháza vom 02.02.2018.
Nach den Angaben im Europäischen Haftbefehl erfolgte die Verurteilung des Verfolgten wegen einer am 29.09.2012 in Nyiregyháza begangenen Tat der Beihilfe zum versuchten bewaffneten und von mehreren gemeinschaftlich begangenen Raub in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zum Nachteil des Geschädigten A. (§§ 365 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 Buchst. b und c, 164 Abs. 1 und 3 ungarisches StGB). Die Verurteilungen in erster Instanz durch das Amtsgericht Nyiregyháza sowie in zweiter Instanz durch den Gerichtshof Nyiregyháza erfolgten jeweils in Abwesenheit des Verfolgten. Nach den Angaben im Europäischen Haftbefehl war er durch den Pflichtverteidiger Dr. B. vertreten.
2. Der Verfolgte ist bereits in der Vergangenheit einmal aufgrund eines Europäischen Haftbefehls im Rahmen eines vor dem Senat geführten Auslieferungsverfahrens (Az.: 1 Ausl. A 21/17) an die Republik Ungarn ausgeliefert worden. Das Amtsgericht Nyiregyháza hatte am 31.10.2017 einen Europäischen Haftbefehl gegen den Verfolgten zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten aus einer weiteren Verurteilung durch das Amtsgericht Nyiregyháza vom 14.09.2017 erlassen, woraufhin der Verfolgte in Bremen ab dem 23.11.2017 in Auslieferungshaft genommen wurde. Aufgrund des bekannten Vorliegens systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in der Republik Ungarn hatte der Senat auf der Grundlage der Grundsätze aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache Aranyosi und Căldăraru (siehe EuGH, Urteil vom 05.04.2016, Aranyosi und Căldăraru - C-404/15 und C-659/15 PPU, ABl. EU 2016, Nr. C 211, 21-22 (Ls.) = NJW 2016, 1709) in jenem Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob aufgrund weiterer Erkenntnisse betreffend die konkreten und genauen Bedingungen der Inhaftierung des Verfolgten in der Republik Ungarn das Vorliegen einer echten Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Verfolgten für den Fall seiner Übergabe an die Republik Ungarn ausgeschlossen werden konnte. Das Justizministerium der Republik Ungarn erklärte in jenem Verfahren mit Schreiben an die Generalstaatsanwaltschaft Bremen vom 20.09.2017, das...