Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorliegen der Ablehnungsgründe gem. Art. 13 Abs. 1b) und Abs. 2 HKÜ

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Ablehnungsgrund des Art. 13 Abs. 1b HKÜ ist unter Berücksichtigung des Zwecks des HKÜ, eine zügige Sorgerechtsentscheidung im Herkunftsstaat zu ermöglichen, restriktiv auszulegen.

2. Der dem entführenden Elternteil obliegende Nachweis, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt, erfordert daher eine über die mit jeder Rückführung verbundenen Belastungen hinausgehende, besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls.

3. Eine solche Beeinträchtigung kann vorliegen, wenn die entführende Mutter nachweist, dass der Vater vor der Entführung in Gegenwart des betroffenen Kindes mit einer ungeladenen Pistole auf sie gezielt und abgedrückt hat und deswegen eine hohe psychische Belastung des Kindes festzustellen ist, die sich in psychosomatischen Symptomen und gravierenden Ängsten äußert, und außerdem festgestellt werden kann, dass es für die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Dekompensation des Kindes bei der Rückkehr keine Rolle spielt, ob die entführende Mutter das Kind begleitet und das Kind dann die noch gesteigerten mütterlichen Ängste vor dem Vater erleben müsste oder ob das Kind gegen seinen Willen in die Hände des Vaters gegeben würde, vor dem es Angst hat.

4. In einem solchen Fall kann außerdem der Ablehnungsgrund des Art. 13 Abs. 2 HKÜ vorliegen, wenn der Widerstand des zehnjährigen Kindes gegen die Rückführung aufgrund der miterlebten Gewalt gegen die Mutter erklärlich erscheint.

 

Normenkette

HKÜ Art. 13 Abs. 1b), Abs. 2

 

Verfahrensgang

AG Bremen (Aktenzeichen 60 F 2500/22)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Bremen vom 18.09.2022 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Anträge des Antragstellers werden zurückgewiesen.

Die Gerichtskosten des Verfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zur Hälfte; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zur Hälfte; außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Der Verfahrenswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Es geht um den Antrag des Kindesvaters auf Rückführung der gemeinsamen Kinder der Kindeseltern, X und Y, beide geboren am [...] 2012, in die Türkei.

Die Kindeseltern sind verheiratet, in der Türkei ist derzeit ein Ehescheidungsverfahren anhängig. Aus der Ehe sind die beiden in Deutschland geborenen Söhne X und Y hervorgegangen. Jedenfalls seit der Einschulung der beiden Kinder hat die Familie ihren Lebensmittelpunkt in der Türkei. Im Dezember 2021 verzog die Kindesmutter mit den beiden Kindern ohne Zustimmung des Kindesvaters nach [...]. Dort leitete sie am [...] 2021 ein Sorgerechtsverfahren ein. Da die Kindesmutter gegenüber dem Amtsgericht [...] wahrheitswidrig angab, der Kindesvater sei unbekannten Aufenthalts, wurde dieser nur im Wege der öffentlichen Zustellung am Verfahren beteiligt. Mit Beschluss vom 14.03.2022 (57 F 4057/21 SO) übertrug das Familiengericht [...] der Kindesmutter die alleinige elterliche Sorge für die beiden Söhne.

Mit seinem am 10.08.2022 beim Amtsgericht [...] eingegangenen Antrag begehrt der Kindesvater die Rückführung der beiden Kinder in die Türkei.

Der Antragsteller hat beantragt,

1. die Antragsgegnerin zu verpflichten, die beiden Kinder innerhalb einer angemessenen Frist in die Türkei zurückzuführen;

2. sofern die Antragsgegnerin der Verpflichtung zu Ziff. 1 nicht nachkommt, die Herausgabe der Kinder an den Antragsteller zum Zwecke der sofortigen Rückführung in die Türkei anzuordnen.

Die Antragsgegnerin hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen.

Sie hat behauptet, der Kindesvater habe ein Alkoholproblem, aufgrund dessen es im Vorfeld ihrer Flucht nach Deutschland mehrfach zu Trennungen gekommen sei. Im Dezember 2021 habe er sie verdächtigt, ein Verhältnis zu haben. Er habe sie beschimpft und beleidigt und schließlich im Schlafzimmer eine Pistole aus einem Schrank geholt, diese vor ihren Kopf gehalten und abgedrückt. Die Waffe sei nicht geladen gewesen. Er habe danach Munition für die Waffe gesucht und diese dabei aus der Hand gelegt. Eines der Kinder habe die Waffe dann schnell an sich genommen und ihr übergeben. Sie habe mit der Waffe das Schlafzimmer verlassen und sie in einen Mülleimer geworfen.

Das Amtsgericht hat den Kindern eine Verfahrensbeiständin bestellt und das Jugendamt [...] angehört.

Das Amtsgericht hat außerdem die beiden Kinder und die Antragsgegnerin persönlich angehört. Der Antragsgegner hat an den vom Amtsgericht durchgeführten Anhörungsterminen weder persönlich teilgenommen noch hat die vom Amtsgericht angebotene Möglichkeit der Teilnahme per Videotelefonie wahrgenommen.

Mit Beschluss vom 18.09.2022 hat das Amtsgericht...

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