Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen wenn später als sechs Monate nach dem Eingang der Anklage mit der Hauptverhandlung begonnen werden soll. Voraussetzungen der Überlastung des Gerichts als wichtiger Grund zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft. Strafprozessrecht. Beschleunigungsgebot. Untersuchungshaft. Haftprüfung. Beginn der Hauptverhandlung. Überlastung des Gerichts
Leitsatz (amtlich)
1. Der Rechtsstaat erfordert eine funktionstüchtige Strafrechtspflege. Dazu reicht es nicht aus, den staatlichen Strafanspruch überhaupt durchzusetzen. Zu geschehen hat dieses innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnimmt.
2. Das Beschleunigungsgebot gehört zu den grundlegenden Verfahrensmaximen von Strafverfahren. Es erfordert eine zeitnahe und straffe Erledigung dieser Verfahren auch dann, wenn sich die Angeklagten nicht in Haft befinden.
3. In Haftsachen ist der Beschleunigungsgrundsatz verletzt, wenn erst sechs Monate nach dem Eingang der Anklage mit der Hauptverhandlung begonnen wird. Dies gilt auch dann, wenn die ursprüngliche Anklage nach Beanstandungen durch die Kammer zurückgenommen und in veränderter Form neu erhoben wird.
4. Die Überlastung des Gerichts rechtfertigt als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur dann, wenn sie kurzfristig eingetreten ist und weder vorhersehbar noch vermeidbar war. Dies setzt notwendig voraus, dass der Staat seine in der Verfassung verankerte Pflicht vorausschauend erfüllt, die Gerichte derart mit Personal auszustatten, dass sie auch tatsächlich in der Lage sind, dem Gebot der Beschleunigung von Strafsachen durch eine zeitnahe Verhandlung und eine ausreichend hohe Verhandlungsdichte nachzukommen.
5. Die Ausstattung von Gerichten mit Personal genügt den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht, wenn sie sich ausschließlich an statistischen Kennzahlen orientiert ohne die tatsächliche Belastung der Gerichte in den Blick zu nehmen. Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür bieten die anhängigen Verfahren. Bleiben sie längere Zeit oder gar Jahre unbearbeitet, ist die personelle Ausstattung offensichtlich unzureichend.
6. Die mit der Haftprüfung betrauten Gerichte haben den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen. Danach sind Haftentlassungen unvermeidbar, wenn es zu Verfahrensverzögerungen kommt, weil der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, die Justiz mit den erforderlichen personellen und sächlichen Mitteln auszustatten.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3; EMRK Art. 5 Abs. 3; StPO § 121 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Bremen (Entscheidung vom 25.04.2016; Aktenzeichen 60 KLs 320 Js 37377/13 (2/16)) |
Tenor
1. Der Haftbefehl des Landgerichts Bremen vom 25.04.2016 - 60 KLs 320 Js 37377/13 (2/16) - wirdaufgehoben.
2. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 28.10.2015 - 91b Gs 711/15 - wird aufgehoben.
3. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 28.10.2015 - 91b Gs 712/15 - wird aufgehoben.
4. Die sofortige Entlassung der Angeklagten [...] und [...] aus der Untersuchungshaft wird angeordnet.
Gründe
I.
Mit der am 25.04.2016 vom Landgericht zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage wird den Angeklagten u.a. gemeinschaftlicher Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, gemeinschaftliche Zuhälterei und Körperverletzung vorgeworfen. Sie sollen im Zeitraum 2012 bis 2015 drei bulgarische Frauen in Bremerhaven als Prostituierte für sich haben arbeiten lassen. Dabei sollen sie den Geschädigten detaillierte Vorgaben für die Ausübung der Prostitution gemacht haben. Die Geschädigten sollten danach u.a. täglich ca. 19 Stunden für die Freier zu Verfügung stehen und auch arbeiten, wenn sie krank waren, Schmerzen oder ihre Periode hatten oder direkt nach einer Abtreibung. Ihnen soll zudem untersagt worden sein, sich miteinander zu unterhalten, damit sie sich nicht gegenseitig von der Arbeit abhielten. Die gesamten Einnahmen sollen die Angeklagten eingesammelt haben, um sie für sich zu verwenden. Die Geschädigten sollen von den Angeklagten regelmäßig geschlagen worden sein, wenn sie zu wenig verdienten oder die Anweisungen der Angeklagten nicht befolgten. Einer vierten Geschädigten soll der Angeklagte [...] ebenfalls detaillierte Vorgaben für die Ausübung der Prostitution gemacht haben. Auch ihr sollen täglich die Einnahmen abgenommen worden sein. Außerdem soll er sie durch Drohungen mit Schlägen aufgefordert haben, mehr Geld zu verdienen.
Das Amtsgericht Bremen erließ am 28.10.2015 - 91b Gs 711/15 und 91b Gs 712/15 - jeweils Haftbefehl gegen die Angeklagten u. a. wegen des dringenden Verdachts des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung. Die beiden Haftbefehle wurden bislang nicht aufgehoben aber durch den Haftbefehl des Landgerichts Bremen vom 25.04.2016 nach Maßgabe des Eröffnungsbeschlusses vom selben Tage neu gefasst. Die Anordnung der Untersuchungshaft erfolgte wegen der Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 11...