Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuständigkeit des originären Einzelrichters beim Beschwerdegericht; Verkehrsicherungspflicht: Mitverschulden eines Benutzers beim Ausrutschen auf einem erkennbar nicht ausreichend gestreuten Gehweg
Leitsatz (amtlich)
1. Der originäre Einzelrichter entscheidet auch dann gem. § 568 Satz 1 ZPO über die sofortige Beschwerde, wenn die angefochtene Entscheidung vom Einzelrichter des LG erlassen, die Nichtabhilfe aber durch die Kammer in vollständiger Besetzung beschlossen wurde.
2. Ist zu erkennen, dass eine Gehwegfläche nach einem Schneefall weder von Eis und Schnee geräumt noch mit abstumpfenden Mitteln bestreut wurde, hat der Benutzer des Weges Anlass zu gesteigerter Aufmerksamkeit und Vorsicht. Kommt er zu Fall, so spricht dies in der Regel dafür, dass er die gebotene Vorsicht außer Acht gelassen hat und ihm ein Mitverschulden anzurechnen ist.
3. Rutscht ein selbst gehbehinderter Benutzer auf einem schneebedeckten Gehweg aus, weil er einem entgegenkommenden gehbehinderten Benutzer mit einem Rollator Platz macht, beträgt die Mitverschuldensquote 20 %
Normenkette
BGB § 254 Abs. 1; ZPO § 568 S. 1
Verfahrensgang
LG Bremen (Beschluss vom 22.02.2013; Aktenzeichen 6 O 42/12) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des LG vom 22.2.2013 wie folgt abgeändert:
Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe für seine gesamte Rechtsverfolgung gemäß den in der mündlichen Verhandlung vom 6.11.2012 gestellten Anträgen (Bl. 171 d.A.) ab dem 18.1.2013 bewilligt und Rechtsanwalt [...], Bremen, beigeordnet.
Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers werden die von ihm zu zahlenden monatlichen Raten gem. § 120 Abs. 1 ZPO auf EUR [...] festgesetzt.
Gründe
1. Zuständig für die Entscheidung ist gem. § 568 Satz 1 ZPO der Einzelrichter des Beschwerdegerichts, denn die angefochtene Entscheidung wurde von einem Einzelrichter erlassen. Dem steht nicht entgegen, dass über die Abhilfe die Kammer in voller Besetzung entschieden hat, offenbar weil das Dezernat von einem Proberichter übernommen wurde, der nach § 348 Abs. 1 Nr: 1 ZPO nicht als Einzelrichter tätig werden darf. Die Zuständigkeit des Einzelrichters für die Beschwerdeentscheidung knüpft nach § 568 Satz 1 ZPO allein daran an, dass die angefochtene Entscheidung vom Einzelrichter des Ausgangsgerichts getroffen wurde. Demzufolge ist es unerheblich, dass über die Nichtabhilfe durch die Kammer in voller Besetzung entschieden worden ist (OLG Frankfurt, Beschl. v. 29.10.2003 - 1 W 70/03, OLGR 2004, 115; OLG München, Beschl. v. 31.1.2007 - 19 W 729/07, OLGR 2007, 186, 187; Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl., § 568 Rz. 2; Musielak/Ball, ZPO, 10. Aufl., § 568 Rz. 2).
2. Die gem. §§ 127 Abs. 2 Satz 2 und 3, 569 Abs. 2 ZPO zulässige sofortige Beschwerde des Antragsstellers ist begründet. Die vom Kläger beabsichtige Rechtsverfolgung bietet im geltend gemachten Umfang hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 114 Satz 1 ZPO).
Unzutreffend hat das LG in dem angefochtenen Beschluss eine Mitverschuldensquote des Klägers von 50 % zugrunde gelegt. Zwar ist das LG, wie auch der Kläger selbst, zu Recht davon ausgegangen dass dem Kläger nach § 254 BGB Abs. 1 BGB ein Mitverschulden anzurechnen ist. Ein höheres Mitverschulden als die vom Kläger bereits in seiner Klagebegründung zugrunde gelegte Quote von 20 % war hier aber nicht anzusetzen.
Zu berücksichtigen ist zunächst, dass auch wenn der Verkehrssicherungspflichtige bei Schnee- und Eisglätte zum Räumen und Streuen verpflichtet ist, das Bestehen dieser Pflicht den Benutzer der Verkehrsfläche nicht von jeder eigenen Aufmerksamkeit und Vorsicht entbindet. Gerade dann, wenn nach dem Vortrag des Klägers zu erkennen war, dass die Gehwegfläche weder von Eis und Schnee geräumt noch mit abstumpfenden Mitteln bestreut wurde, hat der Benutzer des Weges Anlass zu gesteigerter Aufmerksamkeit und Vorsicht. Kommt jemand zu Fall, so spricht dies in der Regel dafür, dass er die gebotene Vorsicht außer Acht gelassen hat. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Geschädigte auf einem Weg ausrutscht, der - abgesehen von der Schneeglätte - keine Besonderheiten aufweist, die die Gefahr des Ausrutschens erhöhen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.3.1998 - 22 U 154/97, VersR 2000, 63 f.; OLG München, Urt. v. 30.1.2003 - 19 U 4246/02, VersR 2003, 518; Palandt/Gründeberg, BGB, 72. Aufl., § 254 Rz. 27, jeweils m.w.N.).
Liegen aber keine besonderen Umstände vor, wiegt das Verschulden des Streu- und Räumungspflichtigen, der die grundsätzlich berechtigten Sicherungserwartungen der Passanten erfüllen muss, wesentlich schwerer, als die momentane Unachtsamkeit des Geschädigten (vgl. OLG Köln, Urt. v. 21.1.2003 - 24 U 97/02, VersR 2003, 1453 f.; Palandt/Grüneberg, a.a.O.). Das bedeutet, dass das Mitverschulden des Geschädigten regelmäßig unter 50 % liegt, wobei die von der Rechtsprechung ausgeurteilten Quoten in solchen Fälle variieren (vgl. z.B. OLG Köln, a.a.O.: 25 %; OLG Düsseldorf, a.a.O.: ein Drittel; OLG München, a.a.O.: 40 %).
Im vorliegenden Fall ist...