Leitsatz (amtlich)
Ein Kraftfahrer, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 20% bis 30% überschreitet, kann sich in der Regel nicht darauf berufen, dass der Unfall für ihn unabwendbar gewesen sei. Kommt es zu einer Kollision eines vorfahrtberechtigten Fahrzeugs mit einem wartepflichtigen, aus einer Seitenstraße einbiegenden Fahrzeug, so ist eine Haftungsverteilung von 75 : 25 zu Lasten des die Vorfahrt verletzenden Fahrzeugs gerechtfertigt, wenn das vorfahrtberechtigte Fahrzeug die zulässige Höchstgeschwindigkeit um etwa 30% überschritten hat.
Verfahrensgang
LG Bremen (Aktenzeichen 3 O 2191/99a) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung des Klägers wird unter Zurückweisung der beiderseitigen Rechtsmittel im übrigen das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 14.4.2000 in der Form des Berichtigungsbeschlusses vom 26.6.2000 abgeändert und wie folgt neugefaßt:
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger DM 5.250,-- nebst 4% Zinsen seit dem 24.12.1999 zu zahlen.
Es wird festgestellt, daß die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner dem Kläger 75% allen künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfall vom 30.6.1997 zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits 1. Instanz werden dem Kläger zu 3/4, den Beklagten als Gesamtschuldnern zu 1/4 auferlegt.
Die Kosten der Berufungsinstanz tragen der Kläger zu 8/9, die Beklagten als Gesamtschuldner zu 1/9.
Die Beschwer des Klägers beträgt DM 27.500,--, die der Beklagten DM 21.250,--.
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.
Tatbestand
Die beiderseitigen Rechtsmittel sind zulässig und in dem aus dem Urteilstenor ersichtlichen Umfang begründet.
1) Die Beklagten haben ihre gesamtschuldnerische Haftung für die vom Kläger erlittenen materiellen und immateriellen Schäden und Zukunftsschäden mit einer Quote von 75% anerkannt. Streitig ist lediglich eine weitere Haftungsquote von 25% geblieben. Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist die Klage hinsichtlich dieser weiteren Haftungsquote nicht begründet. Denn der Unfall war für den Kläger nicht unabwendbar im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG.
Der Begriff des "unabwendbaren Ereignisses" i.S. von § 7 Abs. 2 S.1 StVG meint nicht die absolute Unvermeidbarkeit des Unfalls, sondern ein schadensstiftendes Ereignis, das auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über dem Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt i.S. von § 276 BGB hinaus. Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen will, muß sich wie ein "Idealfahrer" verhalten haben (BGH VersR 1992, 714,715 m.w. N.), so daß die aus dem Betrieb des Fahrzeugs sich ergebenden Gefahren, für die die Gefährdungshaftung eintreten soll, wenn sie sich im Schadensereignis aktualisieren, mit dem Sinn und Zweck der Gefährdungshaftung nicht mehr gerechtfertigt erscheinen. Diese am Schutzzweck der Gefährdungshaftung für den Kfz-Betrieb ausgerichtete Wertung hat unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrsumstände zu erfolgen, wobei sich die Prüfung nicht auf die Frage zu beschränken hat, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein "Idealfahrer" reagiert hat, sondern auch zu berücksichtigen ist, ob ein "Idealfahrer" überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre. Der sich aus der abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, daß sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr, aber zu spät, "ideal" verhält (BGH aaO.).
Gemessen an diesem Maßstab war der Unfall für den Kläger nicht unvermeidbar. Der Kläger ist mit einer Geschwindigkeit von mindestens 65 Km/h gefahren, obwohl die Geschwindigkeit auf der Schiffdorfer Chaussee auf 50 Km/h begrenzt war. Er überschritt damit die zulässige Geschwindigkeit um 30%. Mit dieser Fahrweise entspricht er nicht dem Bild des "Idealfahrers", der in seiner Fahrweise Erkenntnisse berücksichtigt, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden. Auf der sehr übersichtlichen Schiffdorfer Chaussee konnte er den aus einer Seitenstraße einbiegenden Beklagten zu 1) frühzeitig sehen, der sich langsam fahrend sofort zur Mittellinie der Schiffdorfer Chaussee orientierte, weil er nach links in die Grundstückseinfahrt des Hauses Nr. 70 abbiegen wollte. Der Kläger hat nicht bewiesen, daß der Beklagte zu 1) den linken Blinker nicht gesetzt hatte, um sein Abbiegemanöver anzukündigen, so daß für die Frage des Unabwendbarkeitsbeweises des Klägers davon auszugehen ist, daß der Kläger geblinkt hat. Wäre der Kläger vorsichtig und vorausschauend gefahren, hätte er sich aufgrund der Fahrweise des Beklagten zu 1) darauf einstellen müssen, daß der Beklagte zu 1) möglicherweise nach links abbiegen wollte. Dazu hätte er sogar eine geringere...