Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorfahrtsrecht bei der Kollision von Radfahrern, wenn ein Unfallbeteiligter sein Fahrrad in einer unübersichtlichen Abbiegesituation über eine kurze Wegstrecke schiebt
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Straße kann dann nicht als Feld- oder Waldweg in Sinne des § 8 Abs.1 Satz 2 Nr. 2 StVO eingeordnet werden, wenn ihr eine überörtliche Bedeutung zukommt. Ein Weg, der zwei Ortsteile einer Stadt miteinander verbindet und nicht lediglich land- oder forstwirtschaftlichen Zwecken dient, fällt begrifflich daher bereits nicht unter die vom Bundesgerichtshof aufgestellte Definition des "Feld- und Waldweges" (Anschluss BGH Urteil vom 18.11.1975, Az.: VI ZR 172/74, juris Rn.20).
2. Ein Anhalten, Absteigen und kurzfristiges Schieben eines Fahrrades in einer unübersichtlichen Abbiegesituation kann für einen Radfahrer nichts an seiner Einordnung als Fahrzeugführer in Sinne des § 8 StVO ändern. Es besteht ein so enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem Führen des Fahrrads, dass eine derartige Differenzierung nicht geboten ist. Ein ihm zustehendes Vorfahrtsrecht verliert der Radfahrer nicht, wenn er in einer solchen Situation sein Fahrrad über eine kurze Wegstrecke schiebt.
Normenkette
BGB §§ 2, 249-251, 823 Abs. 1; StVO §§ 1, 8
Verfahrensgang
LG Bremen (Urteil vom 30.05.2017; Aktenzeichen 7 O 401/16) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Landgerichts Bremen vom 30.05.2017 (7 O 401/16) sowie das Ergänzungsurteil vom 04.07.2017 teilweise abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, über die erstinstanzlich zuerkannten Beträge hinaus an die Klägerin
als Schadensersatz weitere 1.164,13 Euro
weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 20.333,33 Euro und
weitere Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf 10.000,00 Euro vom 04.02.2016 bis zum 21.09.2016 und auf 21.497,47 Euro ab dem 22.09.2016
zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle weiteren (materiellen und immateriellen) Schäden zu 2/3 zu ersetzen, die ihr aus dem Unfallereignis vom 23.09.2015 gegen 15.40 Uhr im Einmündungsbereich des Verbindungsweges zur X-Weg in den Y-Wanderweg entstanden sind oder noch künftig entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht nach gesetzlichen Vorschriften auf soziale Leistungsträger übergegangen sind oder übergehen werden.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin zu 1/3, die Beklagte zu 2/3. Die Kosten der Berufung trägt der Beklagte allein. Die Kosten der Nebenintervention in der ersten Instanz trägt die Klägerin zu 1/3. Im Übrigen trägt die Nebenintervenientin die Kosten der Nebenintervention selbst.
Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird festgesetzt auf 22.908,62 Euro.
Gründe
I. Die Klägerin macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen den Beklagten aus einem Unfall geltend, der sich am 23.09.2015 gegen 15.40 Uhr auf dem Y-Wanderweg in Bremen im Bereich der Einmündung des Verbindungsweges zum X-Weg ereignete. Der Beklagte befuhr den Y-Wanderweg mit seinem Fahrrad (Rennrad) in nördlicher Richtung (stadtauswärts). Die Klägerin kam aus diesem Verbindungsweg, der aus Sicht des Beklagten auf der rechten Seite in den Y-Wanderweg mündete. Zwischen den Parteien ist dabei streitig, ob die Klägerin bereits vor dem Kreuzungsbereich von ihrem Fahrrad abgestiegen war und ihr Fahrrad schob oder mit dem Fahrrad in den Kreuzungsbereich hineinfuhr. Es kam zur Kollision beider Radfahrer im Einmündungsbereich. Die Klägerin zog sich durch den Unfall erhebliche Verletzungen zu, vor allem im Schädelbereich. Es bestehen auch verschiedene Spät- und Dauerfolgen des Unfalls, insbesondere im Bereich des Sehvermögens und der Fahrtüchtigkeit. Sie leidet unter Wortfindungsschwierigkeiten sowie Schmerzen im Kiefergelenk und im rechten Rippenbereich. In ihrer Berufstätigkeit ist die Klägerin eingeschränkt. Erstinstanzlich verlangte sie zunächst ein Schmerzensgeld von 50.000 Euro sowie Schadensersatz in Höhe von 4.036,91 Euro, der sich aus einem Haushaltsführungsschaden in Höhe von 3.192,17 Euro sowie Krankenhauszuzahlungskosten in Höhe von 280 Euro, Besuchskosten ihres Ehemannes im Krankenhaus und in der Reha-Einrichtung in Höhe von 448,00 Euro, Kosten für einen kieferchirurgischen Heil- und Kostenplan in Höhe von 51,74 Euro, sowie Kosten für Sehtraining in Höhe von 65 Euro zusammensetzt.
Die Klägerin hat behauptet, dass sie im Einmündungsbereich angehalten habe, von ihrem Fahrrad abgestiegen sei und sich sodann ihr Rad rechts neben sich schiebend vorsichtig bis zur Sichtlinie im Einmündungsbereich vorgetastet habe. An den Unfall konkret...