Entscheidungsstichwort (Thema)

Verteidigung. Pflichtverteidiger. Zweck. Beiordnung. funktionstüchtige Strafrechtspflege. Pflichtverstoß. Entpflichtung. Aufhebung einer Verteidigerbeiordnung bei grober Pflichtverletzung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Beiordnung eines Verteidigers dient neben der Wahrung der Interessenn des Beschuldigten auch dem Zweck, im öffentlichen Interesse einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten.

2. Dieser Verfahrensablauf bestimmt sich nach Anklageerhebung nach Maßgabe der §§ 199 ff. StPO; der beigeordnete Verteidiger ist verpflichtet, sich zu allen wesentlichen, den Verfahrensablauf betreffenden Fragen gegenüber dem Gericht zu erklären.

3. Kommt der Verteidiger dieser Verpflichtung wiederholt und auch nach seiner Abmahnung nicht nach, stellt dies eine grobe Pflichtverletzung und zugleich einen "sonstigen Grund" i.S. des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO dar und rechtfertigt die Aufhebung seiner Beiordnung als Pflichtverteidiger.

 

Normenkette

StPO § 140 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 141 Abs. 1, §§ 142, 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3

 

Tenor

Die Beiordnung von Rechtsanwalt B. T., A., wird aufgehoben.

 

Gründe

I.

Rechtsanwalt T. war dem Angeklagten, gegen den zum damaligen ebenso wie zum jetzigen Zeitpunkt u.a. der Verdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 1, 129b Abs. 1 S. 1 und 2 StGB bestand bzw. nach wie vor besteht, durch Beschluss des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Celle vom 11. November 2020 als Pflichtverteidiger gemäß den §§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO; 141 Abs. 1 Satz 1, 142 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, 162, 169 StPO beigeordnet worden. Mit dieser Entscheidung hat der Ermittlungsrichter einem Antrag von Rechtsanwalt T. in dessen Schreiben vom 27. Oktober 2020 entsprochen. In diesem Schreiben hatte Rechtsanwalt T. zugleich seine ordnungsgemäße Bevollmächtigung versichert und Akteneinsicht beantragt. Nachdem Rechtsanwalt T. Akteneinsicht gewährt worden war, hat die Generalstaatsanwaltschaft Celle die Ermittlungen weitergeführt und wiederholt - von Amts wegen - ergänzende Akteneinsicht gewährt. In einem Vermerk vom 15. Dezember 2021 hat die zuständige Dezernentin der Generalstaatsanwaltschaft vermerkt, sie habe in den vergangenen Wochen wiederholt vergeblich versucht, Rechtsanwalt T. bezüglich der Frage zu kontaktieren, ob sich "der Angeschuldigte" zur Sache einlassen werde. Sie habe in der Kanzlei ihre Bitte um Rückruf hinterlassen. Nachdem hierauf nicht reagiert worden sei, habe sie erneut um Rückruf von Rechtsanwalt T. gebeten, einen solchen indes nicht erhalten.

Mit Verfügung vom 25. März 2022 hat die zuständige Dezernentin der Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen abgeschlossen, die Anklage ist am 5. April 2023 erhoben worden. In dieser wird dem Angeklagten zur Last gelegt, zwischen Dezember 2015 und dem 25. Juli 2016 in Hildesheim durch dieselbe Handlung eine ausländische terroristische Vereinigung ("Islamischer Staat Irak und Großsyrien" [ISIG]) unterstützt zu haben und dem Bereitstellungsverbot der im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten unmittelbar geltenden Verordnung der Europäischen Gemeinschaften Nr. 881/2002, die der Durchführung einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient, zuwidergehandelt zu haben, indem er einer im Anhang dieser Verordnung aufgeführten Organisation Gelder zur Verfügung gestellt habe.

Im konkreten Anklagevorwurf führt die Anklageschrift hierzu weiter aus:

"Der Angeschuldigte, alias "A. S.", konvertierte im Jahr 2008 zum Islam. Er radikalisierte sich im Sinne der salafistischen Ideologie und befürwortete die Ziele und Taten des "Islamischen Staats". Er war Gründungsmitglied des inzwischen verbotenen Vereins "D. I. H. e.V." (DIK-Hildesheim), dem auch die gesondert Verfolgten Brüder R. und K. O. sowie A. S. lange Jahre in verschiedenen Funktionen angehörten. In dem Verein wurden spätestens seit Anfang 2015 v. a. durch den Prediger A. A. A. (alias "A. W.") zahlreiche Personen zielgerichtet radikalisiert und zur Ausreise in das Kriegsgebiet nach Syrien und in den Irak zum Anschluss an die terroristische Vereinigung "Islamischer Staat" ("IS") motiviert, darunter der beste Freund des Angeschuldigten und weiteres Gründungsmitglied des DIK-Hildesheim D. W., alias "M. d. D./A.". Dieser war Ende 2014/Anfang 2015 ausgereist und hatte sich dem "IS" angeschlossen, was der Angeschuldigte, dessen eigener Ausreiseversuch Ende 2015 scheiterte, wusste.

Auch A. S. reiste am 30. April 2015 aus Deutschland aus und gliederte sich in Syrien als Mitglied in den "IS" ein, wo er bis Anfang 2019 in führender Funktion an der Aufrechterhaltung und Förderung der militärischen Präsenz und Aktivität des "IS" in Syrien mitwirkte.

Seine in H. verbliebenen Brüder R. und K. O. standen dabei u. a. über Facebook in ständigem Kontakt mit ihm und leisteten ihm vor allem finanzielle, aber auch logistische und sonstige materielle ...

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