Entscheidungsstichwort (Thema)
Untersuchungshaft. Fluchtgefahr. Haftgrund. Haftbeschwerde. Voraussetzung für die Annahme von Fluchtgefahr
Leitsatz (amtlich)
1. Fluchtgefahr ist dann gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich - zumindest für eine gewisse Zeit - dem Strafverfahren entziehen.
2. Bei der Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Die zu erwartenden Rechtsfolgen allein können eine Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen. Sie sind lediglich der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden.
Normenkette
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
LG Stade (Entscheidung vom 02.08.2023; Aktenzeichen 101 KLs 10/23) |
Tenor
Der Haftbefehl des Landgerichts Stade vom 2. August 2023 wird aufgehoben.
Der Angeschuldigte ist in dieser Sache aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeschuldigten insofern entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.
Gründe
I.
Der Angeschuldigte wurde am 14. August 2023 vorläufig festgenommen und befindet sich seither in Untersuchungshaft.
Bereits zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Stade unter dem 14. Juli 2023 gegen den Angeschuldigten und zwei weitere Mitanschuldigte Anklage zur 1. großen Strafkammer des Landgerichts Stade erhoben. Mit dieser legte sie dem Angeschuldigten zur Last, im April 2020 an vier Tagen jeweils mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben. Dem Angeschuldigten wurde vorgeworfen, gemeinsam mit einem Mitangeschuldigten und einer weiteren bislang unbekannten Person Betäubungsmittelgeschäfte unter Nutzung eines kryptierten Mobiltelefons der Firma EncroChat verabredet zu haben. Konkret habe der Angeschuldigte S.an vier unterschiedlichen Tagen im April 2020 an den gesondert Verfolgten Zeugen H. auf einem Parkplatz in I. S. zuvor vereinbarte Betäubungsmittelmengen gegen Bezahlung übergeben. Bei den Betäubungsmitteln soll es sich überwiegend um Marihuana im Bereich zwischen zwei und zehn Kilogramm zu einem Verkaufspreis von 4.800 Euro bis 5.400 Euro pro Kilo gehandelt haben. Des Weiteren sollen zwischen 200 g und 350 g Kokain zu 39 Euro pro Gramm und halluzinogene Pilze sowie LSD durch den Angeschuldigten übergeben worden sein. Insgesamt habe er dadurch einen Verkaufserlös von 115.510 Euro erlangt, wobei der weitere Verbleib des Geldes ungeklärt sei.
Nach Eingang der Anklageschrift beim Landgericht teilte der Vorsitzende der 1. großen Strafkammer am 31. Juli 2023 der Staatsanwaltschaft Stade telefonisch mit, dass die Kammer bei den dem Angeschuldigten S. zur Last gelegten Taten von einer bandenmäßigen Begehung ausgehe und regte gegen diesen den Erlass eines Haftbefehls sowie eine bislang unterbliebene Durchsuchung und zu gegebener Zeit eine Anpassung der Anklageschrift an. Insbesondere die umgesetzten Mengen würden ungeachtet der jeweiligen Übergaben durch eine Einzelperson eher für eine arbeitsteilige Begehungsweise innerhalb einer bestehenden deliktischen Struktur mit unterschiedlicher Rollenverteilung sprechen. Auch die zeitlichen Abläufe legten eine solche Arbeitsteilung von der Beschaffung, Bereitstellung und Auslieferung nahe.
Die Staatsanwaltschaft stellte daraufhin mündlich entsprechende Anträge und stellte eine Anpassung der Anklageschrift in Aussicht, woraufhin die Kammer unter dem 2. August 2023 gegen den Angeschuldigten S. einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl und einen Durchsuchungsbeschluss wegen vierfachen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge bezüglich der bereits in der Anklageschrift aufgeführten Taten erließ und die Akte zur Vollstreckung der Beschlüsse an die Staatsanwaltschaft zurücksandte.
Im weiteren Verlauf erfolgte am 14. August 2023 sodann die Durchsuchung der Wohnanschrift des Angeschuldigten, bei der dieser auch vorläufig festgenommen und anschließend der Kammer zur Haftbefehlsverkündung vorgeführt wurde.
Nachdem die Kammer den Haftbefehl mit Beschluss vom 14. August 2023 aufrechterhalten hatte, beantragte der Verteidiger des Angeschuldigten zunächst Akteneinsicht und Termin zur mündlichen Haftprüfung. Mit am 24. August 2023 eingegangenem Schriftsatz nahm er den Antrag auf mündliche Haftprüfung jedoch wieder zurück und legte gegen die zuletzt ergangene Haftentscheidung Beschwerde mit der Begründung ein, es bestehe kein Haftgrund. Die angenommene Fluchtgefahr sei allein auf den Umstand der Straferwartung gestützt. Unberücksichtigt geblieben sei dagegen, dass dem Angeschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren um...