Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Beweisverwertungsverbot. EnchroChat. Fernmeldegeheimnis. Verwertbarkeit von EncoChat-Dateien außerhalb des Anwendungsbereichs von § 100e Abs. 6 StPO
Leitsatz (amtlich)
1. Beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 100e Abs. 6 StPO kann nach der Grundsatzentscheidung des 5. Strafsenats des BGH vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21, NJW 2022, 1539 ff. - "jede denkbare Beeinträchtigung" einer Person durch die Verwertung von EncroChat-Daten als Beweismittel ausgeschlossen werden.
2. Die Prüfung der Frage, ob EncroChat-Daten als Beweismittel verwertbar sind, kann indes auch nach Inkrafttreten des CanG zum 1. April 2024 durch Heranziehung niedrigschwelliger Verwertungsregelungen vorgenommen werden kann.
3. Bei den EncroChat-Daten handelt es sich - nach dem Maßstab des deutschen Verfassungs- und Strafprozessrechtes - um an Art. 10 GG zu messende, mithin um "qualifizierte" Telekommunikationsdaten, weshalb bei der Prüfung der Frage ihrer Verwertbarkeit auch gemäß § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO iVm § 161 Abs. 3 StPO auf eine entsprechende Anwendung des § 100a StPO zurückgegriffen werden kann bzw. im Falle des Nichtvorliegens der Voraussetzungen des § 100e Abs. 6 StPO wegen der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO zurückgegriffen werden muss.
Normenkette
GG Art. 10; KCanG § 34 Abs. 1, 3; BtMG § 29a; StPO § 100a Abs. 1, 2, und 4, § 100b Abs. 1-2, § 100e Abs. 1, 6, § 161 Abs. 3, §§ 261, 479 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LG Hildesheim (Entscheidung vom 01.11.2023; Aktenzeichen 26 KLs 18 Js 27438/21) |
Tenor
1. Der angefochtene Beschluss wird, soweit das Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens hinsichtlich der Anklagevorwürfe zu den Ziffern 1. - 4., 6. - 17., 19. und 21. - 26. der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hildesheim vom 1. November 2023 abgelehnt und soweit das Landgericht entschieden hat, dass die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Hildesheim - Schöffengericht - stattfinden soll, aufgehoben.
2. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Hildesheim vom 1. November 2023 wird auch hinsichtlich der Anklagevorwürfe zu den Ziffern 1. - 4., 6. - 17., 19. und 21. - 26. mit der Maßgabe zur Hauptverhandlung zugelassen, dass der Angeklagte insoweit des Handeltreibens mit Cannabis, hinsichtlich des Anklagevorwurfs zu Ziffer 24. in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, hinreichend verdächtig ist.
3. Das Hauptverfahren wird vor der Strafkammer 16 des Landgerichts Hildesheim eröffnet.
Gründe
I.
1. Die Staatsanwaltschaft Hildesheim hat am 1. November 2023 und damit noch vor Inkrafttreten des Konsumcannabisgesetzes (KCanG) zum 1. April 2024 vor dem Amtsgericht Hildesheim - Schöffengericht - Anklage erhoben. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, sich in der Zeit vom 27. März 2020 bis zum 10. Juni 2020 in Hildesheim durch 27 Straftaten des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gemacht zu haben. Der Angeklagte soll zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt vor Ende März 2020 beschlossen haben, sich in dem Wissen, nicht über die zum Umgang mit Betäubungsmitteln erforderliche Erlaubnis zu verfügen, aus dem Verkauf von Betäubungsmitteln in der Region Hildesheim eine nicht unerhebliche Einnahmequelle von einiger Dauer zu verschaffen.
Zur Abwicklung dieser Geschäfte soll er den Krypto-Messenger-Dienst "EncroChat" auf dem Mobilendgerät mit der IMEI ... und der damit verknüpften E-Mail-Adresse ... genutzt haben. Der Angeklagte soll in den Fällen der Ziffern 1. - 4., 6. - 17., 19. und 21. - 26. mit den Cannabisprodukten Marihuana und Haschisch in Mengen zwischen mindestens 100 g bis zu 6 kg, im Fall der Ziffer 24. zugleich mit Amphetaminen, in den Fällen der Ziffer 5. mit 20 g Kokain, der Ziffer 18. mit 2 kg Amphetamin und der Ziffer 27. mit 1000 Ecstasytabletten Handel getrieben haben, indem er die jeweiligen Mengen entweder zum Zwecke des gewinnbringenden Weiterverkaufs in seiner Wohnung gelagert oder aber Dritten zu diesem Zwecke übergeben haben soll.
Zwar war bereits am 9. April 2020 über das Portal der sogenannten "Online-Wache" der niedersächsischen Polizei ein anonymer Hinweis des Inhalts eingegangen, dass eine darin namentlich benannte Person namens "J. b." "... Kilo weise Cannabis im großen Stiel und Anvitamine, Mdma und Estasy Tabletten und sehr viel Kokain!" verkaufe und diese ihr Geld sowie damit erworbene Wertgegenstände bei ihrer Mutter verstecke, den hinreichenden Tatverdacht stützt die Staatsanwaltschaft indes maßgeblich auf die EncroChat-Daten. Die durch die Strafverfolgungsbehörden u.a. aufgrund des anonymen Hinweises sowie der Auswertung der EncroChat-Daten durchgeführten Durchsuchungen bei dem Angeklagten bzw. bei dessen Angehörigen wie etwa seiner Mutter erbrachten insoweit keine den Tatverdacht weiter begründenden Erkenntnisse. Der Angeklagte hat sich nicht zur Sache eingelassen.
Mit Beschluss vom 20. Dezember 2023 hat das Amtsgericht das Verfahren gemäß § 225a Abs. 1 StPO dem Landgericht Hildesheim - große Strafkammer - zur Übernahme vorgelegt, we...