Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör. Eröffnung. Sicherungsverfahren. Vernehmung. Auswirkungen des Unterbleibens rechtlichen Gehörs im Ermittlungsverfahren auf die gerichtliche Eröffnungsentscheidung
Leitsatz (amtlich)
1. Wird im Ermittlungsverfahren entgegen § 163a Abs. 1 StPO eine Beschuldigtenvernehmung nicht durchgeführt, ist das Gericht nicht verpflichtet, auf eine unter Verletzung des rechtlichen Gehörs erhobene Anklage hin das Hauptverfahren zu eröffnen.
2. Dies gilt entsprechend bei einer Antragsschrift im Sicherungsverfahren.
3. Werden anlässlich eines Explorationsgesprächs durch den psychiatrischen Sachverständigen die Vorwürfe mit dem Beschuldigten erörtert, stellt dies keine Vernehmung im Sinne des § 163a Abs. 1 StPO dar.
Normenkette
StPO §§ 80, 163a, 204, 414
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Aktenzeichen 4 KLs 19/22) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten der Landeskasse, die auch die dem Beschuldigten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen hat, als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
1. Die Staatsanwaltschaft Verden wirft dem Beschuldigten mit Antragsschrift vom 19. September 2022 vor, im nicht auszuschließenden Zustand der Schuldunfähigkeit in der Zeit vom 2. September 2021 bis zum 31. Dezember 2021 in B. F. und O. durch drei rechtswidrige Taten
1. rechtswidrig fremde Sachen beschädigt oder zerstört zu haben,
2. versucht zu haben, eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich zu misshandeln oder an der Gesundheit zu schädigen,
3. eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben,
wobei sich aus der Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Taten ergebe, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei, weshalb seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen sei. Konkret wird dem Beschuldigten vorgeworfen, er habe unter einer paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis mit begleitendem Alkoholkonsum bzw. -missbrauch leidend
1. am 2. September 2021 gegen die Front eines PKW getreten, wodurch an dessen Kühlergrill eine deutliche Trittstelle zu erkennen sei und der Lack leichte Kratzer aufweise, was der Beschuldigte billigend in Kauf genommen habe,
2. am 20. Dezember 2021 gemeinsam mit einem anderen das Grundstück des Zeugen N. betreten, der sie aufgefordert habe, das Grundstück zu verlassen. Der Beschuldigte habe eine teils gefüllte 0,5 l Bierflasche gezielt in Richtung des Zeugen geworfen, die den Zeugen verfehlt habe. Daraufhin habe der Zeuge eine Schreckschusspistole gezogen. Dennoch habe der Beschuldigte erneut eine teils gefüllte 0,5 l Bierflasche gezielt in Richtung des Zeugen geworfen. Nachdem der Zeuge einen Warnschuss mit der Schreckschusspistole abgegeben habe, habe der Beschuldigte das Grundstück verlassen. Es sei ihm darauf angekommen, den Zeugen mit den Bierflaschen an der Gesundheit zu schädigen oder körperlich zu misshandeln,
3. am 31. Dezember 2021 eine im zweiten Monat schwangere Zeugin mit der linken Hand am Kragen festgehalten und diese mit der rechten Faust einmal ins Gesicht und zweimal in den Bauch geschlagen. Anschließend habe er ihr mit dem beschuhten Fuß mehrfach in den Bauch getreten. Die Zeugin habe Schmerzen verspürt, was der Beschuldigte billigend in Kauf genommen habe.
Im Rahmen der Ermittlungen zu den Vorwürfen 1. und 3. wurde der Beschuldigte durch die jeweils die Anzeige aufnehmenden Polizeibeamten angetroffen, eine Beschuldigtenvernehmung erfolgte nicht. Zu dem Vorwurf zu 2. wurde der Beschuldigte ebenfalls nicht als Beschuldigter vernommen.
Im Auftrag der Staatsanwaltschaft Verden untersuchte der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie P. den Beschuldigten am 11. August 2022 in der Justizvollzugsanstalt G. zur Frage seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit sowie zu den Voraussetzungen einer Unterbringung gem. § 63 StGB, wobei er den Beschuldigten auf "die Fragestellungen des Gutachtens und sein Schweigerecht" hinwies. Der Sachverständige kam zu dem sich in der Antragsschrift wiederspiegelnden Ergebnis.
Ebenfalls unter dem 19. September 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft die Anordnung der einstweiligen Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus.
Der Vorsitzende der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Verden verfügte die Zustellung der Antragsschrift sowie ihrer Übersetzung in die arabische Sprache an die Betreuerin des Beschuldigten und an diesen selbst. Mit Telefonat und Vermerk vom 24. Oktober 2022 wies der Vorsitzende die Staatsanwaltschaft auf Bedenken gegen die Antragsschrift hin, weil dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren kein rechtliches Gehör gewährt worden sei, was zur Unwirksamkeit der Antragsschrift führe, sofern die Gewährung rechtlichen Gehörs nicht nachgeholt werde. Im Hinblick auf den Antrag, die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten anzuordnen, wies der Vorsitzende auf Bedenken gegen einen hi...