Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewährungszeit bei Aussetzung des Restes einer Jugendstrafe durch Strafvollstreckungskammer. Anwendbarkeit des StGB nach Abgabe der Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 JGG
Leitsatz (amtlich)
Hat der Vollstreckungsleiter die weitere Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 S. 1 JGG an die zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben und setzt die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung des Strafrests gemäß § 88 JGG zur Bewährung aus, sind auch für die Berechnung und Verlängerung der Bewährungszeit allein die Vorschriften des JGG anzuwenden. Auch in diesen Fällen sind die Höchstgrenzen nach § 22 JGG einzuhalten.
Normenkette
JGG §§ 22, 85 Abs. 6, § 88
Verfahrensgang
LG Lüneburg (Entscheidung vom 06.02.2012) |
Tenor
1. Der Beschluss der 2. kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle vom 06.02.2012 wird aufgehoben.
2. Der noch nicht vollstreckte Rest der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 05.04.2000, Aktenzeichen: 320 Ls 440 Js 60102/99 (58/00), wird nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen. Der Strafmakel wird für beseitigt erklärt (§ 100 JGG).
3. Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten.
4. Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
Gründe
I. Dem Vollstreckungsverfahren liegt ein Urteil des Amtsgerichts Hannover (320 Ls 440 Js 60102/99 (58/00)) vom 05.04.2000 zugrunde, mit welchem eine Jugendstrafe von acht Monaten gegen den Verurteilten verhängt und zur Bewährung ausgesetzt worden war. Mit Beschluss vom 10.09.2003 hatte das Amtsgericht Hannover die Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer Nachverurteilung durch das Amtsgericht Höxter vom 09.04.2003 widerrufen, wobei es 14 Tage abgeleisteten Hilfsdienst mit 14 Tagen Haft angerechnet hatte. Mit Beschluss vom 10.10.2003 hatte das Amtsgericht Hannover die weitere Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 JGG an die Staatsanwaltschaft Hannover abgegeben. Nach Verlegung des Verurteilten in die JVA S. hatte die kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle mit Beschluss vom 05.11.2004 die Vollstreckung des Strafrests der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungszeit auf vier Jahre festgesetzt.
Wegen diverser Nachverurteilungen innerhalb der Bewährungszeit verlängerte die Strafvollstreckungskammer die ursprünglich festgesetzte Bewährungszeit dreimal, und zwar mit Beschluss vom 01.09.2005 von 4 auf 5 Jahre, mit Beschluss vom 13.01.2009 von 5 auf 5 ½ Jahre und mit Beschluss vom 07.04.2009 von 5 ½ auf 6 ½ Jahre.
Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Achim vom 28.04.2011 wurde der Beschwerdeführer wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20 € verurteilt. Die Tatzeit war am 06.09.2010. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Hannover hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 06.02.2012 die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, wobei in den Beschlussgründen irrtümlich die Freiheitsstrafe von sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Höxter vom 09.04.2003 als zu widerrufende Strafe genannt wird, die aber ein anderes Vollstreckungsverfahren betrifft.
Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Widerrufsbeschluss vom 06.02.2012 aufzuheben und die restliche Jugendstrafe zu erlassen. Sie ist der Auffassung, dass die Bewährungszeit unter Verstoß gegen § 88 Abs. 6 Satz 1 JGG i. V. m. § 22 Abs. 2 Satz 2 JGG verlängert worden sei, sodass die Bewährungszeit bereits seit dem 19.11.2008 abgelaufen sei. Die mit dem Strafbefehl des Amtsgerichts Aurich geahndete Straftat sei daher nicht in der Bewährungszeit begangen worden.
II. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 85 Abs. 6 S. 2 JGG in Verbindung mit §§ 453 Abs. 2 S. 3, 311 Abs. 2 StPO zulässig. Sie ist auch begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
Die Entscheidungen über die nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit sowie den Widerruf der Reststrafenaussetzung beurteilen sich allein nach den einschlägigen Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes und nicht nach dem materiellen allgemeinen Strafrecht. Dass der ursprüngliche Vollstreckungsleiter hier gemäß § 85 Abs. 6 JGG die weitere Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft abgegeben hatte, worauf die Strafvollstreckungskammer für die weiteren Entscheidungen zuständig wurde, ändert an der Vorrangigkeit der jugendrechtlichen Vorschriften nichts. Dies ist bereits für die Frage, nach welcher Vorschrift die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen ist, im Verhältnis von § 57 StGB zu dem vorrangigen § 88 JGG überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum (vgl. OLG Hamm, StV 1996, 277; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 91; OLG Hamm, NStZ-RR 2000, 92; OLG Schleswig, SchlAH 2000, 149; OLG Dresden, NStZ-RR 2000, 381; Eisenberg, JGG, 15. Aufl., § 85 Rdnr. 17 a; Rose, NStZ 2010, 95). Dieser zutreffenden Auslegung des § 85 Abs. 6 JGG sc...