Leitsatz (amtlich)

1. Die Rechtmäßigkeit der Platzverweisung ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Durchsetzungsgewahrsams. Der Senat ändert insoweit seine Rechtsprechung und hält an seiner gegenteiligen Ansicht nicht länger fest.

2. Der Senat neigt zu der Auffassung, dass ein gesamtes Stadtgebiet nicht mehr als "Ort" im Sinne des § 17 Abs. 1 NPOG angesehen werden kann, sondern es sich dabei um einen "örtlichen Bereich" im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 NPOG handelt, mit der Folge, dass eine für ein gesamtes Stadtgebiet ausgesprochene Platzverweisung als ein Aufenthaltsverbot zu qualifizieren wäre.

3. Besteht die abzuwehrende Gefahr in Beeinträchtigungen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs durch einen sich langsam auf einer Fahrbahn fortbewegenden Demonstrationszug, rechtfertigt dies regelmäßig nicht die Ausweitung einer Platzverweisung auf ein gesamtes Stadtgebiet.

4. Vor Anordnung des Durchsetzungsgewahrsams muss eine Ankündigung erfolgen, das für den Fall der Nichtbefolgung der Platzverweisung zu deren Durchsetzung eine Ingewahrsamnahme in Betracht gezogen wird, und eine - je nach Gefahrenlage kürzere oder längere - Frist zur Befolgung der Platzverweisung gewährt werden.Tenor

 

Verfahrensgang

AG Celle (Aktenzeichen 22 XIV 431 L)

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Celle vom 4. September 2023 aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin am 4. September 2023 rechtswidrig war.

3. Die Kosten des Verfahrens und die der Beschwerdeführerin und ihren gesetzlichen Vertretern hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.

4. Der Beschwerdewert wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Beschwerdeführerin wurde am 4. September 2023 um 11:20 Uhr in C. in polizeilichen Gewahrsam genommen. Nach mündlicher Anhörung der Beschwerdeführerin hat das Amtsgericht Celle mit Beschluss vom selben Tag die Ingewahrsamnahme für zulässig erklärt und deren Fortdauer bis höchstens 20 Uhr angeordnet. Mit ihrer Beschwerde beantragt die Beschwerdeführerin die Aufhebung des Beschlusses und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme.

1. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Beschwerdeführerin begab sich gemeinsam mit L. K. am 4. September 2023 von O. nach C., um an einer Kundgebung der Klimaschutzbewegung "Letzte Generation" teilzunehmen. Beide wurden von der Mutter der Beschwerdeführerin in deren PKW nach C. befördert. Um 7:58 Uhr setzten sich Teilnehmende der Kundgebung zeitgleich an zwei Orten der C. Innenstadt, nämlich im Bereich der H. Straße/T. und in der B., auf die Fahrbahnen, um den Verkehr zu blockieren. Einige der Teilnehmenden klebten sich auch auf den Fahrbahnen bzw. aneinander fest. Dabei trugen die auf den Fahrbahnen befindlichen Personen Warnwesten und hielten Protestbanner hoch. Ziel der - weder angezeigten noch vorab angekündigten - Aktion war es, gegen die als zu schleppend erachtete Einleitung und Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen zu protestieren und von den politischen Entscheidungsträgern die Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnen und die dauerhafte Wiedereinführung des "9-Euro-Tickets" im öffentlichen Nahverkehr zu verlangen, um den für die Klimaerwärmung ursächlichen Kohlendioxidausstoß von Kraftfahrzeugen zu reduzieren.

Die Beschwerdeführerin, ihre Mutter und L. K. waren nicht unter den auf den Fahrbahnen sitzenden Personen. Sie trugen auch keine Warnwesten oder Protestbanner, sondern beobachteten und fotografierten jeweils vom Gehweg aus die Aktionen - die Beschwerdeführerin und L. K. am T., die Mutter der Beschwerdeführerin in der B.

Gegen 8:05 Uhr trafen an beiden Aktionsorten Polizeivollzugsbeamte ein und forderten die auf den Fahrbahnen befindlichen Personen auf, die Versammlungen auf dem Gehweg fortzusetzen. Als die Demonstrierenden die Fahrbahnen nicht verließen, lösten die Polizeibeamten die Versammlungen auf und erteilten den Demonstrierenden Platzverweisungen für die Fahrbahnen. Als auch diese nicht befolgt wurden, schoben die Polizeivollzugsbeamten die Personen von den Fahrbahnen. Die festgeklebten Personen konnten zum Teil durch die Polizei selbst, zum Teil nur mithilfe der Feuerwehr von den Fahrbahnen gelöst werden. Die Blockade in der B. war um 8:26 Uhr beendet. Am T. wurde der Verkehr ab 8:27 Uhr um die letzte auf der Fahrbahn festgeklebte Person herumgeleitet. Diese konnte erst um 9:06 Uhr durch die Feuerwehr von der Fahrbahn gelöst werden. An beiden Demonstrationsorten wurden von den Polizeibeamten die Personalien sowohl der zuvor auf den Fahrbahnen befindlichen als auch der umstehenden Personen einschließlich der Beschwerdeführerin und L. K. festgestellt. Den Personen, die die Fahrbahn in der Bahnhofstraße blockiert hatten, wurden zudem von der dort eingesetzten Polizeikommissarin P. Platzverweisungen für das gesamte Stadtgebiet bis 23:59 Uhr desselben Tages erteilt. Im Anschluss wurden alle Personen entlassen und diese entfernten sich.

Gegen 11:00 ...

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