Entscheidungsstichwort (Thema)
Wechselwirkung zwischen der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB und einer zeitlichen Freiheitsstrafe von einem Jahr
Leitsatz (amtlich)
1. Die Umwandlung des § 64 StGB von einer Muss -in eine Sollvorschrift entbindet auch die Amtsgerichte nicht von der Prüfung dieser Vorschrift. Aus Art. 97 GG und aus der gesetzlichen Regelung des § 64 StGB leitet sich vielmehr die Verpflichtung aller Tatgerichte ab, die Frage der Unterbringung eines Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB in den hierzu Anlass gebenden Fällen zu prüfen.
2. In Fällen der vorliegenden Art, in denen durch das Amtsgericht eine Freiheitsstrafe von "lediglich" einem Jahr verhängt wird, kann die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB aufgrund der hier stets gegebenen Wechselwirkung zwischen Strafe einerseits und Maßregel andererseits nicht vom Berufungsangriff ausgenommen werden. Wenngleich es stets auf die Besonderheiten des Einzelfalles ankommt, dürfte dies für alle Fälle gelten, in denen die voraussichtliche Dauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt die Höhe der begleitenden Freiheitsstrafe erheblich übersteigt.
Normenkette
StGB §§ 46, 64; StPO § 244 Abs. 2, §§ 302, 311, 317-318, 327; GVG § 24 Abs. 1 Nr. 2, § 74 Abs. 1; GG Art. 97
Verfahrensgang
LG Stade (Entscheidung vom 08.07.2020; Aktenzeichen 802 Ns 31/20) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stade vom 8. Juli 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Stade zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Verteidiger des Angeklagten hat gegen das Urteil des Landgerichts Stade vom 8. Juli 2020 Berufung eingelegt und diese zunächst nicht beschränkt. Auf Schreiben des Landgerichts Stade vom 4. November 2019, in welchen das Landgericht mitgeteilt hatte, dass es Veranlassung sehe, die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB zu prüfen und dem Angeklagten Gelegenheit zur Stellungnahme bezüglich der Person des zu bestellenden Sachverständigen gegeben hatte, hat der Verteidiger mit Schreiben vom 28. November 2019 die "Nichtanwendung des § 64 StGB von der Anfechtung des Urteils ausgenommen". Im Rahmen der Berufungshauptverhandlung am 8. Juli 2020 hat der Verteidiger des Angeklagten die Berufung sodann auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt.
Das Amtsgericht Stade hatte den Angeklagten am 17. Juli 2019 wegen Diebstahls in vier Fällen sowie wegen Beleidigung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung dieser Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt. Dem Schuldspruch liegen folgende Feststelllungen zugrunde:
1. "Am 02.11.2018 konsumierte der Angeklagte 5 bis 6 Bier. Um an mehr Alkohol zu gelangen betrat der Angeklagte das Ladengeschäft der Firma K. in S. Er nahm Pistazien und zwei Packungen à vier Flaschen Schnaps "K. W." an sich und steckte sich diese in den Ärmel, um die Ware im Wert von insgesamt 13,37 € für sich zu verwenden.
2. Im Rahmen der Sachverhaltsaufnahme zu Ziffer 1. betitelte der Angeklagte den hinzugerufenen Polizeibeamten PK T. als "Nigger" und diesen sowie den ebenfalls hinzugerufenen PK Z. als "Fotzenlecker", um diese so in ihrer Ehre zu verletzen.
3. Am 16.11.2018 betrat er gemeinsam mit einem Bekannten die Filiale der Firma R. in S. und nahm eine Flasche O. Korn im Wert von 4,89 € an sich und steckte diese in seine Jackentasche. So passierte er den Kassenbereich, um die Flasche für sich zu verwenden. Zum Tatzeitpunkt hatte der Angeklagte eine Atemalkoholkonzentration von 0,93 Promille.
4. Am 11.02.2019 konsumierte der Angeklagte aufgrund eines Streites mit seiner Freundin eine halbe Flasche Wodka. Anschließend begab er sich in das Ladengeschäft der Firma A. in S., um dort Bier zu kaufen. Die Kassiererin weigerte sich, dem Angeklagten das Bier zu verkaufen und erteilte diesem Hausverbot. Die Polizeibeamten PK T. und PK'in M. wurden sodann hinzugerufen und forderten den Angeklagten auf, die Filiale des A. Marktes zu verlassen. Der Angeklagte sagte daraufhin zu den Zeugen: "fickt Euch", um diese in ihrer Ehre zu verletzen.
5. Der Zeuge T. forderte den Angeklagten im Anschluss an das Geschehen zu Ziffer 4. erneut auf, das Ladengeschäft zu verlassen und brachte diesen schließlich zu Boden. Sodann geleitete der Zeuge den Angeklagten aus dem A. Markt. Auf dem Parkplatz vor dem Markt äußerte der Angeklagte gegenüber den Polizeibeamten erneut: "fickt Euch", um diese so in ihrer Ehre zu verletzen.
6. Am 21.04.2019 konsumierte der Angeklagte erneut Alkohol und in diesem Fall auch Kokain. Der Angeklagte war schon seit längerem in Besitz eines kleinen Notfallhammers, den er an diesem Morgen wiederfand. Mit dem Hammer begab er sich zu dem Parkplatz vor der Spielothek in S. Er schlug dort zunächst eine Scheibe auf der rechten Seite eines ...