Entscheidungsstichwort (Thema)
Überprüfung anstaltsärztlicher Maßnahmen im Strafvollzug
Leitsatz (amtlich)
1. Die gerichtliche Kontrolle anstaltsärztlicher Maßnahmen auf die Wahrung der Grenzen des pflichtgemäßen ärztlichen Ermessens ist nicht auf offensichtliche Ermessensfehler beschränkt.
2. Im Rahmen des Freibeweisverfahrens kann unter bestimmten Voraussetzungen auch die anstaltsärztliche Stellungnahme dem Gericht die notwendige Sachkunde vermitteln.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 19 Abs. 4; StVollzG §§ 109, 116; JVollzG ND § 57 Abs. 1, § 180 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Hildesheim (Entscheidung vom 07.11.2018; Aktenzeichen 23 StVK 385/17) |
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben, soweit er die Ablehnung fachärztlicher Behandlung zum Gegenstand hat.
Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.
Der Streitwert wird für beide Instanzen auf 1.000,- € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller verbüßt eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt S.
Mit Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 5. Juli 2017 machte er geltend, dass er in der Anstalt nicht die adäquate Behandlung durch Fachärzte, insbesondere Neurologen und Kardiologen, erhalte. Diese benötige er, weil seine Hirnfunktion durch drei Schlaganfälle eingeschränkt sei und er darüber hinaus an einer verdickten Herzscheidewand, einem Loch in der Herzscheidewand, Herzrhythmusstörungen und Vorhofflimmern leide. Außerdem wandte sich der Antragsteller dagegen, dass an ihn gerichtete Briefsendungen, die er nicht aus dem Stationsbüro abhole, an den jeweiligen Absender mit dem Hinweis zurückgesandt würden, dass der Antragsteller die Annahme verweigere.
Mit Beschluss vom 7. November 2018 hat das Landgericht die Anträge als unbegründet zurückgewiesen. Gestützt auf eine Stellungnahme der Anstaltsärztin vom 4. August 2017 ist das Landgericht zu der Feststellung gelangt, dass die Ablehnung einer Vorstellung des Antragstellers bei einem Facharzt nicht die Grenzen des ärztlichen Ermessens überschreite. Die Rechtmäßigkeit der Behandlung eingehender Schreiben, die der Antragsteller nicht aus dem Stationsbüro abholt, habe das Landgericht bereits mit rechtskräftigem Beschluss vom 31. August 2017 - 3 StVK 345/17 - festgestellt. Danach bestehe eine Pflicht der Vollzugsbehörde zur Übergabe der Schreiben im Haftraum nicht, weil der Antragsteller in der Lage und es ihm zumutbar sei, die Schreiben im Stationsbüro abzuholen.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und eine mangelnde Sachaufklärung.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat zum Teil (zumindest vorläufigen) Erfolg.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zulässig, soweit die angefochtene Entscheidung die Ablehnung fachärztlicher Behandlung zum Gegenstand hat. Es ist geboten, insoweit die Nachprüfung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Die Formulierung, dass eine Behandlungsmaßnahme des Anstaltsarztes einer gerichtlichen Kontrolle nur unterfällt, "wenn erkennbar ist, dass der Anstaltsarzt/die Anstaltsärztin die Grenzen pflichtgemäßen Ermessens überschritten hat", lässt besorgen, dass der Entscheidung ein von der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 9. Mai 2018 - 3 Ws 73/18 (StrVollz) -, Nds. Rpfl. 2018, 312) abweichender Prüfungsmaßstab zugrunde liegt.
Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde hingegen unzulässig, weil die Überprüfung des angefochtenen Beschlusses weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist (§ 116 Abs. 1 StVollzG).
2. Soweit die Rechtsbeschwerde zulässig ist, ist sie auch begründet.
Die angefochtene Entscheidung zur medizinischen Behandlung des Antragstellers hat keinen Bestand, weil die getroffenen Feststellungen auf einer unzureichenden Sachaufklärung und rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung beruhen.
Aus § 57 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG folgt ein - grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteter - Anspruch auf Krankenbehandlung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. März 2013 - 2 BvR 2757/11 -, juris). Da Strafgefangene kein Recht auf freie Arztwahl haben, ist zunächst die Anstaltsärztin oder der Anstaltsarzt für ihre Behandlung zuständig (vgl. § 180 Abs. 1 NJVollzG). Sind die Grenzen der Fachkompetenz der Anstaltsärztin oder des Anstaltsarztes oder der Ausstattung der Justizvollzugsanstalt erreicht, muss ein anderer (Fach-)Arzt hinzugezogen werden oder der Strafgefangene zur Behandlung an einen für die betreffende Angelegenheit besser qualifizierten oder besser ausgestatteten Arzt oder an ein geeignetes Krankenhaus überwiesen werden (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 5. Mai 2014 - 2 BvR 1823/13 -, juris; Lesting, in: Feest, AK-StVollzG, 7. Aufl., Teil II § 62 LandesR Rn. 27).
Das ...