Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß § 205 Satz 1 StPO analog

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Verfahren kann in entsprechender Anwendung von § 205 Satz 1 StPO vorübergehend eingestellt werden, wenn ein entscheidendes Beweismittel zwar für längere Zeit im Verfahren nicht zur Verfügung steht, das Hindernis jedoch vorübergehender Natur ist.

2. Es erscheint zweifelhaft, dass eine vorläufige Einstellung des Verfahrens in entsprechender Anwendung von § 205 Satz 1 StPO stets zulässig ist, wenn ein Verfahrenshemmnis besteht, das seinen Grund nicht in der Person des Angeklagten hat, weil eine derart weite Anwendung von § 205 Satz 1 StPO dem Beschleunigungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zuwiderlaufen dürfte.

 

Normenkette

StPO § 205 S. 1; EMRK Art. 6

 

Verfahrensgang

LG Verden (Aller) (Entscheidung vom 26.11.2014; Aktenzeichen 3 KLs 10/12)

 

Tenor

Die Beschwerde der Angeklagten gegen den Beschluss der 3. großen Strafkammer des Landgerichts Verden vom 26. November 2014 wird verworfen.

Die Beschwerdeführer haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

 

Gründe

I.

1. Die Staatsanwaltschaft Verden hat gegen die Angeklagten D. und K. unter dem 24.06.2012 Anklage wegen Vergewaltigung in mehreren Fällen sowie wegen Nötigung, Erpressung und Betruges erhoben. Die 3. große Strafkammer - Jugendstrafkammer - des Landgerichts Verden hat die Anklage mit Beschluss vom 18.06.2014 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.

2. Die Hauptverhandlung begann am 28.08.2014. Im Hauptverhandlungstermin vom 02.09.2014 wurde mit der Vernehmung der Geschädigten Ke. begonnen und ihre Vernehmung am 15.10.2014 fortgesetzt. Die Vernehmung der Nebenklägerin wurde unterbrochen und Termin zur Fortsetzung ihrer Vernehmung auf den 07.11.2014 bestimmt. An diesem Tag erschien die Nebenklägerin nicht. An diesem Verhandlungstermin wurde das ärztliche Attest des A. Klinikums N. vom 24.10.2014 verlesen, aus dem sich ergibt, dass die Geschädigte an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer gemischten dissoziativen Störung und an einer Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung leidet. Im Vorfeld des Verfahrens habe sie Schlafstörungen, Angst, körperliche Missempfindungen und Flashbacks (emotionale Ausnahmezustände mit Wiederleben der traumatischen Situation) gehabt. Sie habe die erste Verhandlung nur wahrnehmen können, weil ein engmaschiger telefonischer Kontakt zum Psychotherapeuten und über Nacht auch zu einer diensthabenden Ärztin bestanden habe. Trotzdem sei es einige Tage nach der Verhandlung zu einer Krise gekommen, die eine akut stationäre Behandlung erforderlich machte. Auch aktuell habe die Patientin die Befragung als extrem anstrengend erlebt, die ausgelösten Bilder hätten zu einer Zunahme von Suizidgedanken geführt, sodass eine neue stationäre Aufnahme notwendig geworden sei. Es sei der Patientin nicht zuzumuten, erneut vor Gericht auszusagen. Die Gesundheitsgefährdung sei erheblich. Sie sei nicht verhandlungsfähig. Weiter wurde die ärztliche Stellungnahme des A. Klinikum N. vom 05.11.2014 verlesen. Hieraus ergibt sich, dass sich der gesundheitliche Zustand der Geschädigten durch die Vernehmungen vor der Strafkammer deutlich verschlechtert habe. Nach beiden Vernehmungen sei eine stationäre Krisenintervention notwendig gewesen, da die Geschädigte Suizidgedanken bekommen habe und sich durch Schneiden mit einem Messer selbst verletzt habe. Die Aussicht auf weitere Vernehmungen lasse sie akut immer wieder in suizidale Krisen stürzen, mit konkreten Ausführungsplänen, nämlich zum Beispiel vom Dach eines Hochhauses zu springen. Zur Beherrschung der Krise seien intensive psychotherapeutische und ärztliche Kontakte notwendig. Weitere Vernehmungen der Geschädigten seien mit der erheblichen Gefahr behaftet, dass die Vernehmungen in eine Suizidhandlung münden und damit den Tod der Geschädigten herbeiführen. Aus ärztlicher Sicht seien weiteren Zeugenvernehmungen nicht mehr zu verantworten.

Im Hauptverhandlungstermin vom 26.11.2014 war die Geschädigte wiederum nicht erschienen. Nachdem zunächst vergeblich ein Verständigungsgespräch geführt worden war, wurde von der Vereidigung der Geschädigten gemäß § 59 StPO abgesehen und diese im Einverständnis sämtlicher Verfahrensbeteiligter entlassen.

Nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten stellte die Strafkammer sodann das Verfahren durch Beschluss gemäß § 205 StPO analog vorläufig ein, weil der Hauptverhandlung für längere Zeit eine in der Person der Geschädigten liegendes Hindernis entgegenstehe. Die Strafkammer hat hierzu ausgeführt, die Geschädigte sei nicht vernehmungsfähig, ihre Vernehmung in der Hauptverhandlung jedoch noch nicht abgeschlossen. Zum einen hätte es aus Sicht der Aussagepsychologin Frau Dr. O. noch Rückfragen an die Geschädigte gegeben, zum anderen hätten insbesondere die Verteidiger und die Angeklagten noch nicht die Möglichkeit gehabt, eine Befragung der Zeugin durchzuführen. M...

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