Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens zur nachträglichen Anwendung der sog. Vollstreckungslösung wegen Verfahrensverzögerungen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zur nachträglichen Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ist nicht zulässig, weil die Nachholung einer Entschädigungs oder Kompensationsentscheidung nicht zu den zulässigen Zielen eines Wiederaufnahmeverfahrens gehört. Wie sich aus § 359 Nr.5 StPO ergibt, können im Wiederaufnahmeverfahren allein der Schuldspruch und - im begrenzten Umfang - der Strafausspruch im engeren Sinn zur Überprüfung gestellt werden.
2. Für den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr.6 StPO gilt insoweit nichts anderes.
Normenkette
StPO § 359 Nr. 5; EMRK Art. 6 Abs. 1, Art. 41
Verfahrensgang
LG Stade (Entscheidung vom 17.11.2009; Aktenzeichen 10 Ks 1/09) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Verurteilten gegen den Beschluss der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Stade vom 17. November 2009 wird verworfen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
Gründe
I. Am 16. Dezember 1997 erkannte das Landgericht Verden gegen die Verurteilte wegen Mordes auf lebenslange Freiheitsstrafe, verneinte aber die besondere Schwere der Schuld. Gegen dieses Urteil legten sowohl die Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Revision ein. Während das Rechtsmittel der Angeklagten mit Beschluss vom 10. Februar 1999 vom Bundesgerichtshof als offensichtlich unbegründet verworfen wurde, hob der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 10. Februar 1999 das Urteil des Landgerichts Verden auf, soweit nicht auf besondere Schuldschwere erkannt worden war und verwies insoweit die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.
Die Verurteilte legte am 8. April 1999 gegen den Verwerfungsbeschluss des Bundesgerichtshofs Verfassungsbeschwerde ein, worauf das Bundesverfassungsgericht mit Entscheidung vom 25. Januar 2005 den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 10. Februar 1999 aufhob und die Sache an den Bundesgerichtshof zurückverwies.
In dem darauf fortgesetzten Revisionsverfahren rügte die Verurteilte zusätzlich im Hinblick auf die Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht die Verletzung von Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. Halbsatz, Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs verwarf die Revision der Angeklagten mit Urteil vom 7. Februar 2006 erneut. Zur Frage einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung führte der Senat aus, die bis zum Abschluss mit der Entscheidung vom 7. Februar 2006 im Revisionsverfahren verstrichene Zeit sei nicht berücksichtigungsfähig, weil das Rechtsmittel nicht der Korrektur eklatanter Fehler gedient habe. Die Dauer des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde habe nicht zur Kompensation in Form einer Strafmilderung führen können, weil dies im Falle der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe von vornherein nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht komme und es sich im Übrigen bei der Verfassungsbeschwerde nicht um ein ordentliches Rechtsmittel im Instanzenzug handele. Die gegen dieses Urteil wiederum eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 21. Oktober 2006 nicht zur Entscheidung angenommen. Mit alsbald rechtskräftig gewordenem Urteil vom 15. Dezember 2006 hat das Landgericht Verden endgültig die besondere Schuldschwere bei der Verurteilten verneint.
Die Verurteilte erhob weiterhin Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der darauf mit Urteil vom 22. Januar 2009 feststellte, dass in dem Strafverfahren gegen die Verurteilte Verletzungen der Art. 6 Abs. 1 (keine Entscheidung in angemessener Frist) und Art. 13 EMRK (kein effektiver Rechtsbehelf gegen Konventionsverstoß) erfolgt sind, und der Verurteilten 3.000 € Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden und 4.000 € für die entstandenen Verfahrenskosten zusprach.
Unter dem 6. Mai 2009 beantragte die Verurteilte beim 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Wiederaufnahme des Revisionsverfahrens und stützte diesen Antrag unter Hinweis auf die ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 6 StPO. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs gab auf Antrag des Generalbundesanwalts den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gem. §§ 367 Abs. 1 StPO, 140 a Abs. 1 S. 2 GVG an das Landgericht Stade ab.
Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Stade verwarf darauf mit dem angefochtenen Beschluss den Wiederaufnahmeantrag der Verurteilten kostenpflichtig als unzulässig. Zur Begründung führte die Kammer aus, die Verurteilte sei durch den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellten Konventionsverstoß nicht mehr beschwert, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihr eine Entschädigung gem. § 41 EMRK zugesprochen habe und nach seiner Begründung gerade davon ausgegangen ist, dass eine innerstaatl...