Entscheidungsstichwort (Thema)
Beiziehung der Bedienungsanleitung bei standardisierten Messverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Hält ein Tatrichter die Einsicht in die Bedienungsanleitung eines Messgeräts für erforderlich, so kann ein Freispruch des Betroffenen nicht damit begründet werden, dass die Verwaltungsbehörde die Herausgabe des Originals oder einer Ablichtung der Bedienungsanleitung unter Berufung auf urheberrechtliche Bedenken verweigert.
2. Die Verwaltungsbehörde ist gem. § 71 Abs. 2 Nr. 2 OWiG verpflichtet, einem Ersuchen des Tatrichters um Übersendung einer Bedienungsanleitung nachzukommen. Kommt sie dieser Pflicht nicht nach, kann das Gericht eine Beschlagnahme und dafür auch eine Durchsuchung bei der Behörde anordnen.
3. Das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nach § 147 StPO umfasst nicht die Bedienungsanleitung für das Messgerät, wenn diese nicht bereits Aktenbestandteil geworden ist.
Normenkette
OWiG § 71 Abs. 2 Nr. 2, §§ 72, 77; StPO § 147
Tenor
1. Die Sache wird auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
2. Der angefochtene Beschluss wird mit den Feststellungen aufgehoben.
3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Bremervörde zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Bremervörde sprach den Betroffenen mit dem angefochtenen Beschluss vom Vorwurf einer Verkehrsordnungswidrigkeit frei.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts wird dem Betroffenen durch Bußgeldbescheid des Landkreises R./W. vom 16. September 2011 vorgeworfen, am 18. Juli 2011 um 07:52 Uhr in S., B 71, in Fahrtrichtung Z. als Führer eines Lkw die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 27 km/h überschritten zu haben. Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte mit dem Gerät TRAFFIPAX TraffiPhot S des Herstellers R. V. S. GmbH.
Nachdem der Betroffene in der Hauptverhandlung vom 11. Januar 2012 ein Privatgutachten vorlegte, aus dem sich ergibt, dass die Einhaltung einiger Vorschriften der Bedienungsanleitung nicht nachgewiesen sei, setzte das Amtsgericht die Hauptverhandlung aus und holte ein Sachverständigengutachten zur Ordnungsgemäßheit der Messung ein. Nachdem in der erneuten Hauptverhandlung am 23. Mai 2012 der gerichtlich bestellte Sachverständige W. bei der Erläuterung seines Gutachtens mehrfach Bezug auf die Bedienungsanleitung des Geräts nahm und dabei schilderte, dass diese Beschreibungen zur Bedienung des Messgeräts enthalte, die für die Ordnungsgemäßheit der Messung eingehalten werden müssten, setzte das Amtsgericht die Hauptverhandlung erneut aus, weil es sich nicht in der Lage sah, die Ausführungen des Sachverständigen und des Messbeamten ohne Vorlage der Bedienungsanleitung kritisch zu hinterfragen. Nachfolgend übersandte das Amtsgericht die Akte zweimal an die Staatsanwaltschaft mit dem Ersuchen, von der Verwaltungsbehörde die Bedienungsanleitung für das Messgerät zu erfordern. Der Landkreis R./W. verweigerte die Übersendung unter Hinweis auf urheberrechtliche Bedenken, die Staatsanwaltschaft sah von der Möglichkeit ab, ein Exemplar der Bedienungsanleitung von der Herstellerfirma zu erwerben.
Daraufhin sprach das Amtsgericht den Betroffenen mit dem angefochtenen Beschluss frei, weil es sich ohne Bedienungsanleitung nicht zur Feststellung der Ordnungsgemäßheit der Messung in der Lage sah. Bei standardisierten Messverfahren sei die Feststellung der ordnungsgemäßen Messung nur möglich, wenn die Bedingungen des Messverfahrens eingehalten worden seien, so insbesondere auch die Einhaltung der Bedienungsvorschriften. Nur in Kenntnis der Bedienungsanleitung könnten Messbeamten und Sachverständige sachgerecht zur ordnungsgemäßen Durchführung der Messung befragt werden.
Der Übersendung einer Kopie der Bedienungsanleitung stehe auch das Urheberrecht der Herstellerfirma nicht entgegen. Vielmehr gebiete der Grundsatz der Vollständigkeit der Akten, dass bereits die Bußgeldbehörde den jeweiligen Verfahrensakten eine Bedienungsanleitung beifügen müsse. Dementsprechend beinhalte das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers auch den Anspruch auf Einsicht in die Bedienungsanleitung.
Gegen den Beschluss des Amtsgerichts wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Rechtsbeschwerde, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Amtsgericht stelle überhöhte Anforderungen an die Überzeugungsbildung von der gefahrenen Geschwindigkeit; der Betroffene sei hier auf der Grundlage des gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens als überführt anzusehen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat sich der Rechtsbeschwerde angeschlossen.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, über die nach Übertragung der Sache auf den Senat aus Gründen der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80a Abs. 3 OWiG) zu entscheiden war, ist begründet.
Der angefochtene Beschluss hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand, so dass es auf die Zulässigkeit der ...