Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, ob die Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO auf Verständigungen Anwendung findet, die den gesetzlichen Vorgaben der §§ 257c, 273 Abs. 1a StPO nicht genügen.
Normenkette
StPO §§ 257c, 273, 302
Verfahrensgang
LG Hannover (Entscheidung vom 26.07.2011; Aktenzeichen 60 Ns 111/11) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der 15. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 26. Juli 2011 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
Gründe
I. Der Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 5. April 2011 wegen "gefährlicher Körperverletzung im minder schweren Fall" zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15, € verurteilt.
Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls bestritt der Angeklagte bei seiner Vernehmung zunächst die Tat. Nach der Zeugenvernehmung des Geschädigten und einer Unterbrechung von 10 Minuten findet sich im Protokoll die Erklärung des Angeklagten:
"Es kann so gewesen sein. Der Alkohol war schuld."
Auf die übereinstimmenden Anträge der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers wurde der Angeklagte zu der Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15, € verurteilt. Anschließend verzichteten nach dem Protokollinhalt der Angeklagte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft auf Rechtsmittel. Ein Vermerk nach § 273 Abs.1a StPO über das Ergebnis einer Verständigung oder deren Unterbleiben wurde in das Protokoll nicht aufgenommen.
Am 12. April 2011 legte der Angeklagte nach Wechsel seines Verteidigers Rechtsmittel gegen das Urteil des Amtsgerichts ein. Er macht unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung und einer schriftlichen Erklärung seines früheren Verteidigers geltend, dass der erklärte Rechtsmittelverzicht wegen einer in der Hauptverhandlung getroffenen Verständigung unwirksam sei. Die Erklärung des Rechtsmittelverzichts habe er nicht erfasst.
Das Amtsgericht verwarf das Rechtsmittel durch Beschluss vom 12. Mai 2011 wegen des erklärten Rechtsmittelverzichts als unzulässig. Auf den hiergegen gerichteten Antrag auf Entscheidung des Berufungsgerichts verwarf das Landgericht durch Beschluss vom 26. Juli 2011 die Berufung des Angeklagten nach § 322 Abs. 1 StPO als unzulässig.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit der sofortigen Beschwerde, mit der er weiterhin die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts rügt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat nach Einholung dienstlicher Stellungnahmen des Vorsitzenden der Hauptverhandlung und des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft beantragt, die sofortige Beschwerde zu verwerfen, weil der Nachweis einer Verständigung in der Hauptverhandlung nicht erbracht sei.
II. Die gem. § 322 Abs. 2 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten im Ergebnis zutreffend nach § 322 Abs. 1 Satz 2 StPO verworfen, weil die eingelegte Berufung infolge wirksamen Rechtsmittelverzichts unzulässig war. Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob der Ausschluss des Rechtsmittelverzichts nach § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO auch auf Vereinbarungen der Verfahrensbeteiligten Anwendung findet, die den gesetzlichen Vorgaben des § 257c nicht StGB entsprechen. Denn nach dem Ergebnis des Freibeweisverfahrens kann nicht festgestellt werden, dass dem Urteil eine Verständigung der Verfahrensbeteiligten vorausging.
Im Einzelnen:
1. Der zu Protokoll erklärte Rechtsmittelverzicht ist nicht bereits deswegen als wirksam zu behandeln, weil das Protokoll keinen Hinweis auf eine getroffene Verständigung enthält.
Ergibt sich aus dem Protokoll weder der nach § 273 Abs. 1 Satz 2, Abs. 1a Satz 1 und 2 StPO zwingend vorgeschriebene Vermerk über eine erfolgte Verständigung noch der - ebenso zwingend vorgeschriebene - Vermerk nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO, dass eine Verständigung nicht stattgefunden habe (sog. Negativattest), ist das Protokoll widersprüchlich und verliert insoweit seine Beweiskraft. Das Rechtsmittelgericht hat in diesem Fall im Wege des Freibeweisverfahrens aufzuklären, ob dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist, die zur Unwirksamkeit des nachfolgend erklärten Rechtsmittelverzichts führen würde (BGH NJW 2011, 321. OLG Frankfurt, NStZRR 2010, 213. OLG Düsseldorf, StV 2011, 80. Peglau in Beck OK StPO, § 273 Rn. 21).
2. Nach dem Ergebnis der Freibeweisaufnahme kann nicht festgestellt werden, dass sich die Verfahrensbeteiligten verständigt haben.
a. Zwar könnte der nach dem Protokoll dokumentierte Verlauf der Hauptverhandlung eine Verständigung nahe legen, weil der Angeklagte nach einer umfänglichen bestreitenden Einlassung im Anschluss an eine 10minütige Unterbrechung den Tatvorwurf mit der knappen Einlassung "Es kann so gewesen sein. Der Alkohol war schuld" einräumte und Staatsanwaltschaft und Verteidigung sodann übereinstimmende Anträge stellten, denen das Amtsgericht im Urte...