Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Verteidigung bei drohendem Bewährungswiderruf in anderer Sache

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es liegt gemäß § 140 Abs. 2 ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn neben den Rechtsfolgen für die verfahrensgegenständliche Tat sonstige schwerwiegende Nachteile für den Angeklagten infolge der Verurteilung zu gewärtigen sind. Zu diesen Nachteilen gehört ein drohender Bewährungswiderruf jedenfalls dann, wenn die zu erwartende Verbüßungsdauer der in früheren Verurteilungen verhängten Freiheitsstrafen ein Jahr überschreitet.

2. Die Rüge der Verletzung von § 140 Abs. 2 i.V.m. § 338 Nr. 5 StPO berücksichtigt das Revisionsgericht selbst dann, wenn diese zwar nicht in einer den Anforderungen von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechenden Weise ausgeführt ist, bei zugleich zulässig erhobener Sachrüge sich die die Verfahrensrüge ausfüllenden Tatsachen aber vollständig aus dem Urteilsinhalt ergeben.

3. Zur Frage der Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme durch den unverteidigten Angeklagten selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung.

 

Normenkette

StPO § 140 Abs. 2, §§ 302, 338 Nr. 5, § 344 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Entscheidung vom 03.01.2012)

 

Tenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hannover vom 3. Januar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hannover zurückverwiesen.

 

Gründe

I. Die Angeklagte war durch das Amtsgericht Hannover wegen "Beförderungserschleichung" zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt worden. Das Amtsgericht hatte die Vollstreckung dieser Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt.

Die weder im Verfahren vor dem Amtsgericht noch im Berufungsrechtszug verteidigte Angeklagte hatte gegen das amtsrichterliche Urteil zunächst unbeschränkt Berufung eingelegt, dieses Rechtsmittel aber mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft in der Berufungshauptverhandlung auf die Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt. Das Rechtsmittel blieb ohne Erfolg. Das Berufungsgericht, das von einer wirksamen Beschränkung auf die Aussetzungsfrage ausgegangen ist, hat eine für die Aussetzung gemäß § 56 Abs. 1 StGB erforderliche positive Sozialprognose verneint. Zur Begründung hat die Strafkammer vor allem darauf abgestellt, dass die Angeklagte die hier verfahrensgegenständliche Tat während des Laufs von Bewährungsfristen aus drei verschiedenen Urteilen begangen hat.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Angeklagte mit der Revision. Sie erhebt außer der allgemeinen Sachrüge auch mehrere Verfahrensrügen. Die Angeklagte macht unter mehreren Aspekten die Verletzung der Amtsaufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO geltend. Zudem rügt sie die Verletzung von § 140 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 338 Nr. 5 StPO. Dazu trägt die Revision vor, die Angeklagte sei in der Berufungshauptverhandlung unverteidigt gewesen, obwohl die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vorgelegen hätten. Nach Auffassung der Revision ergibt sich die Notwendigkeit der Verteidigung aus dem Umstand, dass in einem früheren gegen die Angeklagte geführten Strafverfahren ein Sachverständigengutachten eingeholt worden sei. Aus diesem ergebe sich das Vorliegen der Eingangskriterien der §§ 20, 21 StGB bei der Angeklagten. Infolgedessen sei diese nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen und sachgerechte Anträge zu stellen.

II. Das Rechtsmittel hat auf die im Ergebnis zulässig erhobene Rüge der Verletzung von § 140 Abs. 2 i.V. mit § 338 Nr. 5 StPO hin Erfolg. Auf die weiteren Verfahrensrügen und die Sachrüge kommt es deshalb nicht an.

1. Zur Zulässigkeit der Verfahrensrüge hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme ausgeführt:

"Zwar entspricht die von der Angeklagten erhobene Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO nicht den ... Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, allerdings ist das Revisionsgericht nicht gehindert, bei der Prüfung einer Verfahrensrüge - wie hier §§ 338 Nr. 5, 140 Abs. 2 StPO - bei zugleich erhobener (zulässiger) Sachrüge den Urteilsinhalt ergänzend zu berücksichtigen (vgl. Meyer-Goßner, aaO., § 344, Rn. 20). ...

Unter Heranziehung des Urteilsinhalts, insbesondere der dort aufgeführten Vorstrafen des Angeklagten, dürfte ... das Revisionsgericht über die Tatsachen verfügen, die zur Prüfung der Frage erforderlich sind, ob der Angeklagten ein Pflichtverteidiger hätte beigeordnet werden müssen."

Auf der Grundlage dieser Auffassung, der der Senat zustimmt, ist der Senat wegen der zulässig erhobenen allgemeinen Sachrüge berechtigt, im Rahmen der Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 5 i.V. mit § 140 Abs. 2 StPO denjenigen Urteilsinhalt zu berücksichtigen, der für die Beurteilung der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 oder 2 StPO relevant ist. Dieser besteht in den Feststellungen über drei zuvor gegen die Angeklagte er...

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