Entscheidungsstichwort (Thema)

Räum- und Streupflicht unter Vorbehalt des Zumutbaren und Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen; Entstehung einer Glätte erst im Laufe des Tages; Vorrangige Sicherung von belebten, über Fahrbahnen führende Fußgängerwege vor unbedeutenden Nebenstraßen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Räum- und Streupflicht besteht nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt.

2. Entsteht eine Glätte erst im Laufe des Tages, muss dem Pflichtigen ein angemessener Zeitraum zur Verfügung stehen, um die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Glätte einzuleiten.

3. Der Pflichtige hat dabei zu priorisieren und insoweit belebte, über Fahrbahnen führende Fußgängerwege vorrangig vor unbedeutenden Nebenstraßen zu sichern.

 

Normenkette

BGB § 253; GG § 839 Abs. 1; GG Art. 34; ZPO § 256 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Verden (Aller) (Urteil vom 06.07.2023; Aktenzeichen 5 O 25/22)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 6. Juli 2023 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden - 5 O 25/22 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 5.226,50 EUR.

 

Gründe

(gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)

I. Die Berufungen beider Parteien sind zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben und begründet worden. In der Sache hat nur die Berufung der Beklagten Erfolg. Ansprüche der Klägerin bestehen nicht. Im Einzelnen:

1. Die Klägerin hat keinen Anspruch gem. § 839 Abs. 1, § 253 BGB; Art. 34 GG; § 256 Abs. 1 ZPO. Die Beklagte hat die ihr obliegende Streupflicht nicht verletzt.

a) Grundsätzlich hat die Beklagte gem. § 10 Abs. 1; § 52 Abs. 1 Nr. 3c NStrG die Verkehrsteilnehmer vor den von der Straße ausgehenden und bei ihrer zweckgerechten Benutzung drohenden Gefahren zu schützen. Dazu gehört, dass die Beklagte dafür Sorge trägt, dass u.a. Gehwege eine möglichst gefahrlose Benutzung zulassen und somit bei Glätte gestreut sind.

Die Pflicht der öffentlichen Hand, Straßen und Wege bei Schnee und Eis zu räumen und zu bestreuen, kann sich sowohl aus der Pflicht zur polizeimäßigen Reinigung, die in Niedersachsen in § 52 des Straßengesetzes (NStrG) geregelt ist, als auch aus der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht ergeben. Zwischen diesen Pflichten braucht vorliegend nicht unterschieden zu werden, da sie, soweit es - wie hier - um die Sorge für die Sicherheit des Straßenverkehrs geht, deckungsgleich sind (vgl. BGH, Urteil vom 5. April 1990 - III ZR 4/89 -, Rn. 14, juris; BGH, Urteil vom 11. Juni 1992 - III ZR 134/91 -, BGHZ 118, 368-374, Rn. 10; BGH, Urteil vom 21. November 1996 - III ZR 28/96 - VersR 1997, 311, 312) und in Niedersachsen nicht nur die Aufgabe der polizeimäßigen Reinigung, sondern auch die der Verkehrssicherungspflicht gemäß § 10 Abs. 1 NStrG als Amtspflicht in Ausübung öffentlicher Gewalt ausgestaltet ist.

b) Diese Verpflichtung unterliegt indes sowohl rechtlichen als auch praktischen Einschränkungen.

aa) Inhalt und Umfang der winterlichen Räum- und Streupflicht richten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Art und Wichtigkeit des Verkehrsweges sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht besteht daher nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (BGH, Beschluss vom 20. Oktober 1994 - III ZR 60/94 -, Rn. 7, juris).

Entsteht eine Glätte erst im Laufe des Tages, muss dem Pflichtigen ein angemessener Zeitraum zur Verfügung stehen, um die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Glätte einzuleiten. Der Pflichtige braucht aber keine zwecklosen Maßnahmen zu ergreifen. Dichter Schneefall kann sehr bald alle Streumittel so weit bedecken, dass sie wirkungslos werden; in solchen Fällen wird dem Verpflichteten wiederum eine angemessene Frist gewährt, bis er nach Beendigung eines solchen dichten Schneefalls mit dem Streuen beginnen muss (BGH, Urteil vom 22. November 1965 - III ZR 32/65 -, Rn. 31, juris). Andererseits befreit auch anhaltender oder drehender Schneefall nicht unter allen Umständen von der Streupflicht (BGH, Urteil vom 22. November 1965 - III ZR 32/65 -, Rn. 31, juris; umfassend hierzu: Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 28. August 2023 - 2 U 1/23 -, Rn. 31 mwN, juris). Die Streupflicht besteht unverzüglich, d.h. im Rahmen einer gewissen Zeitspanne nach Beendigung des Schneefalls (OLG Düsseldorf, Urteil vom 20. März 1998 - 22 U 154/97 -; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 28. August 2023 - 2 U 1/23 -, beide zitiert nach juris).

Für Fußgänger müssen die Gehwege, soweit...

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