Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung: Aufwendungsersatzanspruch des Sozialversicherungsträgers gegen eine haftungsprivilegierte Person wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls; Verursachung eines Verkehrsunfalls durch grob fahrlässiges Fahrverhalten; Zurechnung des Mitverschuldens des Verletzten wegen Verstoßes gegen die Anschnallpflicht
Leitsatz (amtlich)
1. Der Begriff der betrieblichen Tätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 2 S. 1 SGB VII ist weit auszulegen. Als betriebliche Tätigkeit des Schädigers ist grundsätzlich jede ge-gen Arbeitsunfall versicherte Tätigkeit zu qualifizieren (Senat, Urteil vom 12. Mai 2010 - 14 U 166/09 -, juris). Hierzu zählt auch die Durchführung von Fahrten mit Betriebsfahrzeugen im Straßenverkehr. Eine betriebliche Tätigkeit liegt insbesondere dann vor, wenn die Fahrt im Betriebsinteresse des Arbeitgebers des Versicherten durchgeführt wird.
2. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes personales Verschulden, nur weil ein solches häufig damit einherzugehen pflegt. Vielmehr erscheint eine Inanspruchnahme des haftungsprivilegierten Schädigers im Wege des Rückgriffs nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 1 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (vgl. u.a. BGH, Urteile vom 30. Januar 2001 - VI ZR 49/00 -; vom 12. Januar 1988 - VI ZR 158/87 sowie BGHZ 119, 147, 149).
3. Für die Entscheidung, ob die Herbeiführung eines Verkehrsunfalls als grob fahrlässig zu qualifizieren ist, sind stets die Umstände des konkreten Einzelfalls maßgeblich. Grobe Fahrlässigkeit kann anzunehmen sein, wenn ein Fahrzeugführer auf gerader Strecke bei ungeminderter Erkennbarkeit von hinten auf ein ordnungsgemäß und hinreichend beleuchtetes Trecker-Anhänger-Gespann auffährt, ohne auszuweichen oder abzubremsen (hier bejaht).
4. Ist unstreitig oder steht nach einer Beweisaufnahme fest, dass der Verletzte bei dem Verkehrsunfall entgegen § 21a Abs. 1 S. 1 StVO den Sicherheitsgut nicht angelegt hatte und die erlittenen Verletzungen in erheblichem Umfang auf diesem Umstand beruhen, ist der Aufwendungsersatzanspruch gemäß § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII wegen des dem Sozialversicherungsträger zuzurechnenden Mitverschuldens des Versicherten in angemessenem Umfang - hier mit 40% bemessen - zu kürzen. Die Bemessung des Mitverschuldens erfolgt einheitlich; eine Differenzierung danach, ob einzelne Verletzungen oder Verletzungsfolgen bzw. die einzelnen Aufwendungen des Sozialversicherungsträgers darauf zurückzuführen sind, dass der Geschädigte angegurtet war oder nicht, findet nicht statt.
5. Ist der Rechtsstreit hinsichtlich des Anspruchsgrundes entscheidungsreif, während zur Höhe noch eine umfangreiche Beweisaufnahme ansteht, hat das Berufungsgericht das klagabweisende Urteil des Erstgerichts (teilweise) abzuändern und ein Grundurteil zu erlassen; wegen des Betragsverfahrens ist das Urteil des Erstgerichts im Übrigen gemäß § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 ZPO aufzuheben und der Rechts-streit insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Normenkette
BGB § 276; SGB VII § 2 Abs. 2 S. 1, § 8 Abs. 2 Nr. 1, §§ 104-105, 110 Abs. 1; StVG §§ 7, 17; StVO § 21a Abs. 1 S. 1; ZPO §§ 304, 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 4
Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 28.12.2017; Aktenzeichen 6 O 323/14) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 28. Dezember 2017 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 6. Zivilkammer des Landgerichts Hannover ≪6 O 323/14 ≫ teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Klage ist dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils des Versicherten der Klägerin von 40 % gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die weiteren Aufwendungen, die ihr aus Anlass des Unfalls ihres Versicherten M. M. vom 17.09.2008 entstanden sind und zukünftig entstehen, soweit Schadensersatzansprüche des Versicherten auf der Klägerin gegen die Beklagte gemäß § 116 SGB X auf die Klägerin übergegangen sind, zu 60 % zu ersetzen.
Die weitergehende Berufung wird hinsichtlich des Grunds des Anspruchs zurückgewiesen.
Im Übrigen wird das angefochtene Urteil einschließlich des Verfahrens aufgehoben und die Sache für das Betragsverfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.
Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils aufg...