Entscheidungsstichwort (Thema)
Fehlende Vorhersehbarkeit der Umsturzgefahr eines Sonderschutzfahrzeugs beim zügigen Rückwärtsfahren mit eingeschlagener Lenkung
Leitsatz (amtlich)
Der Fahrer eines Sonderschutzfahrzeugs, das wegen seiner Aufpanzerung beim zügigen Rückwärtsfahren mit eingeschlagener Lenkung schon nach wenigen Metern umkippt, handelt nicht fahrlässig (§§ 276 Abs. 2, 823 Abs. 1 BGB), weil diese Gefahr nicht vorhersehbar war, insbesondere auch nicht allgemein bekannt gemacht worden ist.
Normenkette
BGB § 276 Abs. 2, § 823 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Lüneburg (Urteil vom 29.10.2019; Aktenzeichen 4 O 178/17) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 29. Oktober 2019 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg ≪4 O 178/17 ≫ wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil sowie das vorgenannte Urteil des Landgerichts Lüneburg sind vorläufig vollstreckbar. Den Parteien bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % der für den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger aufgrund der Urteile vollstreckbaren Beträge abzuwenden, sofern dieser nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 113.567,09 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Gegenstand des Rechtsstreits ist ein Unfall, der sich am 14. März 2015 gegen 10.50 Uhr auf dem Betriebsgelände der Klägerin in G., L. Str. ..., ereignet hat. Die Führung des Betriebes hatte die Klägerin der Firma G. mbH übertragen, die ihrerseits die Beklagte zu 1) mit der Erbringung von Sicherheitsleistungen betraut hatte. Die Klägerin war Eigentümerin des Sonderschutzfahrzeugs Mercedes Benz G-Guard ..., das der Beklagte zu 2) - ein Mitarbeiter der Beklagten zu 1) - auf dem Werksgelände steuerte, um eine Streifenfahrt zur Bewachung durchzuführen. Ihn begleitete als Beifahrer der Zeuge D. Im Rahmen eines Wendemanövers in Rückwärtsfahrt stürzte das klägerische Fahrzeug auf die rechte Seite und erlitt einen wirtschaftlichen Totalschaden. Die Klägerin hat die Beklagten auf Schadensersatz in Höhe von 111.567,09 EUR (vor allem Mietwagenkosten) nebst Feststellung der zukünftigen Schadensersatzpflicht (Erhöhung der Versicherungsprämie) in Anspruch genommen, weil der Beklagte zu 2) ein rasantes und überflüssiges Fahrmanöver ohne Anlass in Kenntnis der erleichterten Kippgefahr des Fahrzeugs durchgeführt und so den Schaden verschuldet habe. Die zur Zahlung aufgeforderte Beklagte zu 1) hat eine Schadensregulierung verweigert, da ein vertraglich vereinbarter Haftungsausschluss auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit greife, der hier zu bejahen sei, weil der Beklagte zu 2) ein normales Wendemanöver durchgeführt habe und mit einem Umstürzen des Fahrzeugs nicht habe rechnen müssen. Die Beklagte zu 1) treffe auch kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden hinsichtlich des Beklagten zu 2), der zuverlässig und besonnen sei. Die Schadenshöhe haben die Beklagten bestritten, insbesondere die Notwendigkeit des Zeitraums der Mietwagenkosten; es hätte ein Interimsfahrzeug beschafft werden können. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung (Bl. 445R - 447R d. A.).
Der Einzelrichter der 4. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg hat die Klage nach informatorischer Anhörung des Beklagten zu 2), Vernehmung des Zeugen D. und Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens von Dipl.-Ing. D. nebst mündlicher Ergänzung abgewiesen. Gemäß § 11 Abs. 2 des Vertrages zwischen der Klägerin und der Firma G. mbH sei die Haftung beschränkt auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, was über § 4 Abs. 7 desselben Vertrages auch Wirkung im Verhältnis der Klägerin zur Beklagten zu 1) entfalte. Denn diese habe die Auswahl von Subunternehmern der Fa. G. beeinflussen können. Anderenfalls liefe die gleichlautende Vereinbarung zur Haftungsbegrenzung zwischen der Beklagten zu 1) und der Firma G. mbH ins Leere. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin eine 100 %-ige Tochter der Fa. G. mbH gewesen sei. Der Beklagte zu 2) habe sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht grob fahrlässig verhalten, denn es sei nicht auszuschließen, dass er versehentlich zu viel Gas gegeben habe. Das Kipprisiko des klägerischen Fahrzeugs könne nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Wegen der Begründung im Einzelnen wird Bezug genommen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 447R - 450R d. A.).
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Anträge weiter. Sie rügt, der Einzelrichter habe nicht berücksichtigt, dass der Beklagte zu 2) ein unsinniges Fahrmanöver mit maximaler Geschwindigkeit bei voll eingeschlagenem Lenkrad ohne Anlass durchgeführt habe. Es wäre sinnvoll gewesen, sich dies mittels einer visuellen Simulation durch den Sachverständigen zu vergegenwärtigen. Die...