Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Anwendbarkeit der sog. "Psychoklausel" in der privaten Unfallversicherung, wenn der Versicherte nach einem schweren Unfall mit lebensbedrohlichen Folgen bis zum Beginn des operativen Eingriffs bei vollem Bewusstsein ist, und darauf seine psychische Reaktion beruht

 

Leitsatz (amtlich)

Die - vom BGH grundsätzlich für wirksam gehaltene - sog. "Psychoklausel" nach Ziff. 5.2.6 AUB 2000 bezieht sich nur auf Fälle, bei denen am Beginn der Kausalreihe ein Unfallereignis ohne Gesundheitsschädigung gestanden hat, dem jedoch aus psychisch-seelischen Gründen die Erkrankung nachgefolgt ist, bzw. auf Fälle, bei denen eine Gesundheitsschädigung stattgefunden hat, es aber aufgrund späterer - inadäquater - Fehlverarbeitung zu Störungen über den physischen Schaden hinaus gekommen ist. Krankhafte Störungen, die eine organische, nicht notwendig hirnorganische Ursache haben, sind nicht vom Versicherungsschutz ausgeschlossen. Die Ausschlussklausel gilt damit nicht, wenn der Versicherte nach einem schweren Unfall mit lebensbedrohlichen Folgen bis zum Beginn des operativen Eingriffs bei vollem Bewusstsein ist, und es nach sachverständiger Feststellung nicht um eine spätere psychische Fehlverarbeitung eines Unfalls geht, die psychische Reaktion bei lebensnaher Betrachtung eine vielmehr nicht vermeidbare Begleiterscheinung ist, und insoweit ein Anknüpfen der psychischen Störung direkt an die organischen Unfallfolgen vorliegt.

 

Normenkette

AUB Nr. 5.2.6 2000

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Urteil vom 10.06.2014; Aktenzeichen 2 O 123/10)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das am 10.6.2014 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des LG Hannover wird zurückgewiesen.

2. Auf die Berufung des Klägers wird das am 10.6.2014 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des LG Hannover dahingehend ergänzt, dass die Beklagte verurteilt wird, auf den mit dem Urteil des LG zugesprochenen Betrag von 92.940 EUR Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.6.2010 zu zahlen.

3. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

4. Dieses Urteil und das Urteil des LG Hannover sind vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten wird gestattet, die Vollstreckung des Klägers gegen Sicherheitsleistung in Höhe eines die vollstreckbare Forderung um 20 % übersteigenden Betrages abzuwenden, soweit nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger macht Ansprüche aus einem zwischen den Parteien bestehenden Unfallversicherungsvertrag geltend, wobei im Berufungsverfahren die Parteien insbesondere noch um die Reichweite der "Psychoklausel" streiten.

Zwischen dem 1972 geborenen Kläger und der Beklagten besteht ein Unfallversicherungsvertrag (Versicherungsschein Anlage B 2, Anlagenband Beklagte). Dem Vertrag liegen die AUB 2000 der Beklagten zugrunde (Anlage B 3), daneben die Besonderen Bedingungen für die Versicherung einer Unfall-Rente bei einem Invaliditätsgrad ab 50 % und die Besonderen Bedingungen für die Unfallversicherung mit progressiver Invaliditätsstaffel (Anlage B 4).

Am ... August 2006 verunfallte der Kläger mit seinem Motorrad schwer (vgl. zusammenfassend Klagschrift S. 4). Vom Unfall bis zum Beginn des operativen Eingriffs war der Kläger bei Bewusstsein.

Ende Oktober 2007 wurde beim Kläger ein Hodentumor festgestellt, der im November 2007 operativ entfernt wurde.

Für die Beklagte erstattete Dr. med. K. vom Institut ... Sachverständigengutachten (Anlagen B 7 und B 9 sowie K 4). Für den Kläger gab der PD Dr. med. T. eine gutachterliche Stellungnahme ab (Anlage K 5).

Gemäß ihrem Schreiben vom 12.6.2007 erbrachte die Beklagte eine Vorschussleistung i.H.v. 12.600 EUR (Anlage B 6). Auf der Grundlage einer angenommenen Gesamtinvalidität von 25 % errechnete die Beklagte gemäß Schreiben vom 9.11.2009 eine Entschädigungsleistung von 22.325 EUR (Anlage K 3). Den Differenzbetrag zum Vorschuss i.H.v. 9.725 EUR zahlte die Beklagte im Jahr 2010 (Bl. 29), woraufhin der Rechtsstreit insoweit von den Parteien übereinstimmend für erledigt erklärt wurde (ebenda, sowie Bl. 31).

Der Kläger hat Ansprüche auf der Grundlage einer angenommenen Gesamtinvalidität von 65 % geltend gemacht.

Er hat zuletzt beantragt (Bl. 284, 2),

1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 94.560 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger monatlich im Voraus 500 EUR zu zahlen, beginnend am 5.3.2010,

3. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger seine außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 2.578,12 EUR zu ersetzen.

Die Beklagte hat beantragt (Bl. 284), die Klage abzuweisen.

Sie hat gemeint, die tatsächlichen unfallbedingten Dauerschäden habe sie mit den geleisteten Zahlungen ausgeglichen. Die psychischen Beeinträchtigungen unterfielen dem Ausschluss in Ziff. 5.2.6 AUB.

Für das LG sind folgende Sachverständigengutac...

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