Entscheidungsstichwort (Thema)
Verkehrssicherungspflicht der Gemeinde bei unebenem Gehweg in Fußgängerzone
Leitsatz (amtlich)
1. In einer Fußgängerzone, die von zahlreichen Passanten benutzt wird und in der sich eine Vielzahl von Geschäften befinden, die die Aufmerksamkeit der Fußgänger auf sich ziehen, sind an die Vermeidung von Stolperfallen erhöhte Anforderungen zu stellen. Hier kann eine Haftung des Verkehrssicherungspflichtigen bereits dann in Betracht kommen, wenn der Niveauunterschied 1,5 cm oder mehr beträgt (hier: Sturz einer Passantin über einen Gullydeckel, der 1,8 cm bis 2,2 cm aus dem Pflaster herausragt.
2. Auch der Fußgänger wird hierdurch aber nicht der Verpflichtung enthoben, auf eventuelle Unebenheiten zu achten und sich hierauf einzustellen (hier: Mitverschulden von ¼ nach § 254 BGB).
Normenkette
BGB §§ 254, 823, 839
Verfahrensgang
LG Lüneburg (Urteil vom 31.05.2006; Aktenzeichen 2 O 57/06) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 31.5.2006 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des LG Lüneburg teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.262,50 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 29.11.2005 zu zahlen, ferner weitere 208,54 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.2.2006.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen Schäden, die aus dem Unfall der Klägerin vom 10.9.2005 in der M.-straße in S. künftig entstehen, zu ¾ zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz tragen die Klägerin 40 % und die Beklagte 60 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung ist überwiegend begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1, Alt. 1, § 546 ZPO). Ferner rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zulegenden Tatsachen die angefochtene Entscheidung nicht (§ 513 Abs. 1, Alt. 2 ZPO). Der Klägerin steht ein Anspruch auf Ersatz von ¾ ihrer materiellen und immateriellen Schäden gegen die Beklagte gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG, § 253 Abs. 2, § 254 Abs. 1 BGB wegen des Unfalls vom 10.9.2005 zu.
1. Nach dem Ergebnis der im Berufungsverfahren erfolgten Anhörung der Klägerin sowie der Vernehmung des Zeugen S. steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin am 10.9.2005 in der M.-Straße in S. über einen Gullydeckel gestolpert ist, der mindestens 1,5 cm aus dem Pflaster herausragte. Die Klägerin hat angegeben, sie sei an diesem Morgen mit ihrem Ehemann vom Markt gekommen und die M.-Straße entlanggegangen, als sie mit dem Fuß hinter den Gullydeckel gehakt und hingefallen sei. Die Straße sei sehr belebt gewesen und am rechten und linken Rand hätten sich die Außenbestuhlung einer Eisdiele sowie Ständer eines Bekleidungsgeschäftes befunden. Vor dem Sturz sei ihr der Gullydeckel nicht aufgefallen.
Diese Angaben werden im Kern bestätigt durch die Aussage ihres Ehemannes, der bekundet hat, nach den Einkäufen seien sie die belebte M.-Straße Richtung nach Hause gegangen, als seine Ehefrau plötzlich der Länge nach hingefallen sei. Die beiden Seiten der Straße hätten die Bestuhlung und Auslagen von Geschäften eingenommen, weshalb sie in der Mitte gelaufen seien. Zwar konnte der Zeuge nicht sagen, ob die Klägerin konkret an der überstehenden Kante des Gullydeckels oder an den diese umgebenden Steinen des Pflasters hängen geblieben ist. Immerhin hat er aber bestätigt, dass der Gullydeckel deutlich hoch gestanden habe und die Klägerin direkt vor diesem gefallen ist. Auch unter Berücksichtigung der Angaben der Klägerin selbst besteht hiernach kein vernünftiger Zweifel daran, dass die Klägerin an dem eine besondere Stolperfalle bildenden Gullydeckel und nicht an einem der umgebenden Pflastersteine gestolpert ist, mögen auch diese nicht völlig eben verlegt sein. Sie ragen über das allgemeine Niveau jedenfalls nicht so weit hinaus wie der Gullydeckel.
2. Die Beklagte hat ferner gegen die sie treffende Verkehrssicherungspflicht verstoßen.
a) Grundsätzlich ist derjenige, der eine Gefahrenlage schafft, verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern (BGH VersR 2003, 1319). Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst danach diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schaden zu bewahren. Voraussetzung ist, dass sich vorausschauend die naheliegende Gefahr ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können. Andererseits kann nicht jeder abstrakten Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen begegnet werden. Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst dann, wenn sich die naheliegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werd...