Entscheidungsstichwort (Thema)
Unabwendbarkeit eines Aufschiebeunfalls
Leitsatz (amtlich)
Auch ein Idealfahrer muss im fließenden Verkehr nicht jeweils einen solch großen Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug halten, dass er auch für den Fall, dass ihm ein beliebig schweres Fahrzeug mit beliebig hoher Ausgangsgeschwindigkeit auffährt, durch die von den genannten Parametern abhängige kollisionäre Geschwindigkeitsänderung keinesfalls auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben werden kann.
Normenkette
StVG §§ 7, 17; StVO § 4
Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 31.08.2011; Aktenzeichen 6 O 298/08) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten zu 1 wird das am 31.8.2011 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 6. Zivilkammer des LG Hannover teilweise geändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Dieses Urteil und das Urteil des LG sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Von der Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil und der Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.
II. Die Berufung der Beklagten zu 1 ist begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte zu 1 aus §§ 7, 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG, § 3 PflVG a.F. auf Ersatz ihres durch das streitgegenständliche Unfallereignis vom 28.7.2008 auf der Autobahn 1 in Italien entstandenen Schadens.
1. Da sich der streitgegenständliche Unfall am 28.7.2008 und damit vor dem In-Kraft-Treten der Rom II-VO am 11.1.2009 ereignet hat, finden hier Art. 38 ff. EGBGB Anwendung (vgl. Geigel, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., 43. Kapitel, Rz. 58).
Gemäß Art. 40 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 EGBGB ist auf den vorliegenden Rechtsstreit deutsches Schadensersatzrecht anzuwenden, denn die Parteien hatten im Unfallzeitpunkt ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei erstreckt sich die Anwendbarkeit deutschen Rechts gem. Art. 40 Abs. 4 EGBGB auch auf den Direktanspruch der Klägerin aus § 3 PflVG a.F. gegen die Beklagte zu 1 als Haftpflichtversicherung des von dem Beklagten zu 2 gefahrenen Fahrzeugs.
Ungeachtet der Geltung des deutschen Schadensersatzrechts bleiben allerdings für die Beurteilung der Verhaltens- und Sorgfaltspflichten die am Unfallort geltenden verkehrsrechtlichen Vorschriften - hier die Bestimmungen der italienischen Straßenverkehrsordnung - maßgeblich, denn sie bestimmen die in der jeweiligen Verkehrssituation zur Vermeidung von Schäden und Gefahren notwendigen Maßnahmen (vgl. BGH NJW-RR 1996, 732 - juris-Rz. 10).
Dabei gilt im Hinblick auf den - hier relevanten - Sicherheitsabstand zwischen den unfallbeteiligten Fahrzeugen nach italienischen Recht gemäß dem insoweit einschlägigen Art. 149 Abs. 1 Codice della Strada, dass der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug so groß sein muss, dass ein rechtzeitiges Anhalten in jedem Fall möglich ist und eine Kollision vermieden wird. Dass nach dem anzuwendenden italienischen Straßenverkehrsrecht neben diesem allgemeinen Grundsatz in Bezug auf das streitgegenständliche Unfallgeschehen Sonderregelungen zur Anwendung kämen, hat sich weder bei der Recherche des Senats ergeben, noch hat die Klägerin zu solchen Regelungen vorgetragen.
2. In entsprechender Anwendung von Art. 1 Abs. 2 EGVVG richtet sich der streitgegenständliche Direktanspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1 nach § 3 Nr. 1 PflVG a.F., nachdem der Versicherungsfall bereits am 28.7.2008 und damit vor dem in Art. 1 Abs. 2 EGVVG benannten Datum eingetreten ist. Dem steht nicht entgegen, dass in Art. 1 Abs. 2 EGVVG ausdrücklich nur auf die alte Fassung des VVG, nicht aber des PflVG verwiesen wird. Insoweit ist eine erweiternde Auslegung vor dem Hintergrund angezeigt, dass nunmehr die entsprechenden Normen des PflVG a.F. Eingang in §§ 113 ff. VVG gefunden haben (vgl. LG Karlsruhe, VersR 2009, 1397 - juris-Rz. 35).
3. Grundsätzlich hängt gem. § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG im Verhältnis der unfallbeteiligten Fahrzeuge der Umfang des beiderseits zu leistenden Schadensersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden überwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.
Gemäß § 17 Abs. 3 StVG haftet nur bei Unabwendbarkeit der Fahrzeughalter nicht, der dies für sich beweisen kann.
Unabwendbar in diesem Sinne ist ein Ereignis, das auch durch äußerst mögliche Sorgfalt - nämlich durch sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den persönlichen Maßstab hinaus - nicht abgewendet werden kann. Dies erfordert die Berücksichtigung aller möglichen Gefahrmomente einschließlich erheblicher fremder Fehler. Auch der Idealfahrer darf aber grundsätzlich auf das Unterlassen grober Verkehrsverstöße durch andere Verkehrsteilnehmer vertrauen (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 17 StVG Rz. 22 m.w.N.).
Ein unabwendbares Ereignis liegt demnach vor, wenn ein idealer Fahrer bei idealer Fahrweise mit einem idealen Fahrzeug de...