Leitsatz (amtlich)
1.
Ein Linksabbieger, der an einer sich auf der geradeaus führenden Fahrspur stauenden Fahrzeugschlange auf einer eigens dafür vorgesehenen Linksabbiegerspur vorbeifährt, darf nur dann die erlaubte Höchstgeschwindigkeit nicht ausnutzen, wenn es die Straßen, Verkehrs, Sicht und/oder Wetterverhältnisse nicht erlauben.
2.
Ein Fahrzeugführer darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass ein PkwFahrer, der sich auf der Geradeausspur eingeordnet hat, tatsächlich auch in diese Richtung fahren will.
Verfahrensgang
LG Lüneburg (Entscheidung vom 25.02.2008; Aktenzeichen 1 O 215/07) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 25. Februar 2008 verkündete Urteil des Einzelrichters der 1. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg teilweise geändert:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 5.966,96 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozent seit dem 1. Juni 2007 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
(abgekürzt gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Die zulässige Berufung der Klägerin hat Erfolg. Die Klägerin kann vollständigen Ersatz des ihr bei dem Verkehrsunfall vom 8. März 2007 auf der P.straße in C. entstandenen Schadens verlangen, §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 3, 18 Abs. 1 StVG, bezgl. der Beklagten zu 2 zudem § 3 PflVG a.F.
1.
Der Unfall stellte sich für beide Fahrzeugführer nicht nachweislich als unabwendbar dar.
Die Beklagten nehmen dies für die Beklagte zu 1 nicht in Anspruch. Sie hat auch tatsächlich gegen alle Pflichten beim Fahrstreifenwechsel verstoßen.
Auch die Klägerin konnte indessen nicht nachweisen, dass der Unfall für den Fahrer ihres Pkw unabwendbar war. Zwar hat der Sachverständige T. bei seiner Anhörung vor dem Landgericht im Termin vom 4. Februar 2008 (Bl. 181 d.A. oben) ausgeführt, der Unfall sei für den Zeugen W. bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h unvermeidbar gewesen, da er mit seinem Pkw ca. 25 m von dem Polo der Beklagten zu 1 entfernt gewesen sei, als sich dieser in Bewegung setzte, um auf die linke Spur auszuscheren.
Aus diesem Abstand ergibt sich aber, dass der Zeuge W. bei einer geringeren Geschwindigkeit (nämlich bei ca. 40 km/h) den Unfall hätte vermeiden können. Im Rahmen der Beurteilung der Unabwendbarkeit folgt der Senat daher dem Landgericht in der Bewertung, dass ein besonders sorgfältiger, umsichtiger Autofahrer (sog. Idealfahrer) die Fahrzeugschlange auf der rechten Fahrspur nicht mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit überholt hätte, sondern seine Geschwindigkeit etwas reduziert hätte.
2.
Dementsprechend hängt die Abwägung der Haftungsanteile von einem etwaigen weiteren Verursachungsbeitrag der Parteien am Zustandekommen des Unfalls ab.
a)
Die Beklagte zu 1 trifft ein erhebliches Verschulden, denn ihr oblag die nach § 7 Abs. 5 StVO erhöhte Sorgfaltspflicht beim Fahrstreifenwechsel, wonach ein solcher nur durchgeführt werden darf, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Ein Fahrstreifenwechsel ist rechtzeitig und deutlich anzukündigen, wobei die Fahrrichtungsanzeiger zu benutzen sind. Letzteres behauptet die Beklagte zu 1 nicht einmal. Ebenso hat sie keine Rückschau gehalten.
b)
Demgegenüber ist dem Fahrer des klägerischen Pkw entgegen der Auffassung des Landgerichtes ein Verschulden nicht vorzuwerfen, weil er nach eigenen Angaben mit der innerorts erlaubten Höchstgeschwindigkeit gefahren ist. Zwar verweist das Landgericht im Grundsatz zutreffend darauf, dass nach § 3 Abs. 1 S. 1 und 2 StVO die erlaubte Höchstgeschwindigkeit nicht ausgenutzt werden darf, wenn es die Straßen, Verkehrs, Sicht und/oder Wetterverhältnisse erfordern.
Zunächst ist jedoch von dem Grundsatz auszugehen, dass bei normalen Verhältnissen die innerörtlich erlaubte Höchstgeschwindigkeit ausgenutzt werden darf (BGH NZV 2002, 365). Die Fahrgeschwindigkeit ist erst bei unklarer Verkehrslage zu reduzieren z.B., wenn sie sich nach den Umständen nicht eindeutig beurteilen lässt.
Die konkrete Verkehrssituation war indes für den Zeugen W. nicht unklar, wobei zu beachten ist, dass der Zeuge W. keinen typischen Überholvorgang i.S.d. § 5 StVO durchgeführt hat, sondern als Linksabbieger einen dafür gesondert vorgesehenen eigenen Fahrstreifen benutzte. Die Fahrzeuge vor ihm - insbesondere das weit vorne stehende Fahrzeug der Beklagten zu 1 - wollten eindeutig geradeaus fahren und benutzten hierfür die eigens vorhandene Geradeausspur. Es bestanden keinerlei Anhaltspunkte dafür, eines dieser Fahrzeuge würde plötzlich und ohne vorherige Anzeichen wie Blinken nunmehr doch nach links abbiegen.
Der hier zur Beurteilung anstehende Sachverhalt ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht vergleichbar mit typischen Unfällen zwischen einem Linksabbieger und einem Überholer einer vor ihm befindlichen Kolonne, weil in dieser Situation jeweils nur ein Fahrstreifen vorhanden ist, nicht jedoch - wie im vorliegenden Fall - eine Geradeaus sowie eine eigene Linksabbiegespur. ...