Rechtsabbieger haben für die Weiterfahrt Wahl zwischen mehreren Fahrspuren
Das OLG Saarbrücken hatte über die im Straßenverkehr häufig anzutreffende Konstellation zu entscheiden, dass der ein Kfz führende Linksabbieger darauf vertraut, dass ein entgegenkommender Rechtsabbieger für die Weiterfahrt nach dem Abbiegevorgang die rechte Fahrspur nutzt. Häufig leiten Linksabbieger in dieser Situation den Abbiegevorgang ein und fahren in die linke Fahrspur ein, ohne die Beendigung des Abbiegevorgangs des Rechtsabbiegers abzuwarten. Für eine hierdurch verursachte Kollision ist in erster Linie der Linksabbieger verantwortlich, allerdings nicht unbedingt ausschließlich.
Linksabbieger bog ohne zu warten in linke Fahrspur ein
Im konkreten Fall war der Fahrer eines VW-Polos nach rechts abgebogen und wollte zur Weiterfahrt die linke Fahrspur nutzen. Ein entgegenkommender Linksabbieger nahm an, der Polofahrer würde zur Weiterfahrt die rechte Fahrspur nutzen und bog mit seinem Fahrzeug nahezu gleichzeitig in die linke Fahrspur ein, wodurch es zu einer Kollision der beiden Fahrzeuge kam. Der Halter des Linksabbiegerfahrzeugs klagte gegen den Halter und Fahrer des Polos auf Schadenersatz. Er argumentierte, er habe darauf vertrauen dürfen, dass der Unfallgegner mit seinem Fahrzeug – wie schon vor dem Abbiegevorgang – weiterhin die rechte Fahrspur nutzen würde.
Gesetzliche Wartepflicht des Linksabbiegers
Mit dieser Auffassung drang der Kläger weder erst- noch zweitinstanzlich durch. Das in 2. Instanz zuständige OLG stellte klar, dass ein Linksabbieger gegenüber einem entgegenkommenden Rechtsabbieger gemäß § 9 Abs. 4 StVO wartepflichtig ist. Das Gesetz mache diese Wartepflicht nicht davon abhängig, ob dem Rechtsabbieger für seine Weiterfahrt nach dem Abbiegevorgang eine oder mehrere Fahrspuren zur Verfügung stünden. Vielmehr gelte diese Wartepflicht ohne Einschränkung (BGH, Urteil v.7.2.2012, VI ZR 133/11).
Kein Vertrauen auf Nutzung des rechten Fahrstreifens durch Rechtsabbieger
Aus diesem Grundsatz zog das OLG den Schluss, dass ein Linksabbieger nach dem Gesetz kein schutzwürdiges Vertrauen darauf hat, dass ein Rechtsabbieger für seine Weiterfahrt den rechten Fahrstreifen nutzt. Stünden nach dem Abbiegevorgang mehrere Fahrstreifen zur Verfügung, so habe der Rechtsabbieger die Wahl, welchen dieser Fahrstreifen er für die Weiterfahrt nutzen wolle. Nach der Gesetzeslage dürfe er darauf vertrauen, dass der Linksabbieger seiner Wartepflicht genügt. Etwas anderes könne allenfalls dann gelten, wenn der Rechtsabbieger erkennbar den Anschein erwecke, er werde für die Weiterfahrt den rechten Fahrstreifen nutzen.
Wahl eines Fahrstreifens nach Abbiegevorgang ist kein Fahrspurwechsel
Das OLG trat auch der Auffassung des Klägers entgegen, der Beklagte habe mit seinem Fahrzeug einen unzulässigen Fahrstreifenwechsel vorgenommen. Gemäß § 7 Abs. 5 StVO dürfe ein Fahrstreifen zwar nur gewechselt werden, wenn die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, die Wahl eines Fahrstreifens zur Weiterfahrt nach Durchführung eines Abbiegevorgangs sei allerdings kein Fahrstreifenwechsel im Sinne dieser Vorschrift. Der Linksabbieger habe im konkreten Fall die bisher von ihm befahrene Straße verlassen und beim Einbiegen in die neue Straße die Wahl zwischen den verschiedenen, für die Weiterfahrt zur Verfügung stehenden Fahrstreifen gehabt. Solange er diese Wahl noch nicht vollzogen habe, liege auf der Straße, in die er eingebogen sei, kein Fahrstreifenwechsel vor.
Sorgfaltsverstoß des Beklagten
Im konkreten Fall warf das OLG dem Beklagten aber dennoch einen Sorgfaltspflichtverstoß vor. Nach Auffassung des OLG hätte der Beklagte aufgrund der an der Unfallstelle bestehenden übersichtlichen Verkehrslage bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennen können, dass der Linksabbieger sein Fahrzeug nicht verlangsamt und erkennbar die Absicht gehabt habe, in die linke Fahrspur einzufahren, bevor der Beklagte seinen Abbiegevorgang beendet habe. Bei Anwendung äußerster Sorgfalt hätte er daher seine Fahrt verlangsamen und sich auf das Fehlverhalten des Klägers einstellen können und müssen (so in einem ähnlichen Fall auch: OLG Koblenz, Beschluss v. 17.11.2021, 12 U 1517/21).
30 % Mitverschulden des Rechtsabbiegers
Im Ergebnis bewertete das OLG das Mitverschulden des Beklagten an dem Unfallhergang allerdings deutlich geringer als das überwiegende Verschulden des den Vorrang des Beklagten verletzenden Linksabbiegers. Das OLG hielt eine Haftungsverteilung zwischen den Beteiligten in Höhe von 70 zu 30 % zulasten des Klägers für angemessen.
(Saarländisches OLG, Urteil v. 20.10.2023, 3 U 49/23)
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