Leitsatz (amtlich)
1. Leitlinien ärztlicher Fachgesellschaften dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden.
2. Eine Wiederholung der Beweisaufnahme im Berufungsverfahren kommt in der Regel nicht in Betracht, wenn der Patient keine konkreten Anhaltspunkte aufzeigt, die gegen die Einschätzung eines erstinstanzlichen Gutachters sprechen, insbesondere kein Privatgutachten vorlegt.
3. Selbst eine unterbliebene medizinische Dokumentation bildet keine eigene Grundlage für Schadensersatzanspruche, sondern begründet lediglich die Vermutung, dass eine aufzeichnungspflichtige Maßnahme unterblieben ist.
Verfahrensgang
LG Chemnitz (Aktenzeichen 4 O 156/20) |
Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen.
2. Die Klägerin hat Gelegenheit, innerhalb von zwei Wochen Stellung zu nehmen. Sie sollte allerdings auch die Rücknahme der Berufung in Erwägung ziehen.
3. Der Termin zur mündlichen Verhandlung vom 21.09.2021 wird aufgehoben.
4. Es ist beabsichtigt, den Gegenstandswert des Berufungsverfahrens auf 132.663,09 EUR festzusetzen.
Gründe
I. Die am 28.05.1969 geborene Klägerin macht Ansprüche aus behaupteter fehlerhafter ärztlicher Behandlung geltend.
Sie litt an einer habituellen Patellaluxation beidseits. 2010 wurde das rechte Kniegelenk durch ein laterales Release versorgt. Anfang 2012 erfolgte ein laterales Release des linken Kniegelenks. Wegen persistierender Beschwerden im linken Kniegelenk wurde bei der Klägerin während einer stationären Behandlung vom 25.10. bis 29.10.2016 im Haus der Beklagten zu 1) durch den Beklagten zu 4) am 25.10.2016 eine MPFL Rekonstruktion des linken Kniegelenkes durchgeführt. Es kam zu einer Patellaluxation, und die Klägerin wurde erneut bei der Beklagten zu 1) vom 24.02. bis 02.03.2017 stationär aufgenommen, wo am 24.02.2017 eine offene chirurgische Refixation der insuffizienten MPFL Plastik durch den Beklagten zu 4) nach Rücksprache mit dem Beklagten zu 2) durchgeführt wurde. Am 18.09.2017 stellte sich die Klägerin beim Beklagten zu 4) in der Sprechstunde des MVZ B... wegen starker Schmerzen im linken Kniegelenk vor. Die Untersuchung ergab eine erneute Luxation der Patella. Nachdem sich die Klägerin zusätzlich beim Beklagten zu 2) vorgestellt hatte, wurde die Indikation zu einer endoprothetischen Versorgung mit Implantation einer Knietotalendoprothese gestellt. Die Klägerin wurde erneut in der Zeit vom 03.10. bis 16.10.2017 bei der Beklagten zu 1) aufgenommen und der Eingriff am 04.10.2017 durch den Beklagten zu 3) durchgeführt. Am 17.01.2018 stellte sich die Klägerin in der Sprechstunde des Beklagten zu 2) mit hinkendem Gangbild und persistierenden Schmerzen vor und legte den CT-Befund vom 05.01.2018 vor, der keine Auffälligkeiten zeigte. In der Zeit vom 22.01. bis 29.01.2018 erfolgten in der Klinik der Beklagten zu 1) ein stationäres Monitoring und eine Schmerztherapie. Sie stellte sich am 19.03.2018 erneut wegen starker Schmerzen und Bewegungseinschränkungen sowie einer Überwärmung vor. Am 25.03.2018 erfolgte eine Kniegelenkspunktion mit anschließender offener Arthrolyse. Es wurden ausgeprägte Verwachsungen festgestellt und gelöst. Eine weitere stationäre Behandlung erfolgte in der Zeit vom 03.12. bis 12.12.2018 im Hause der Beklagten zu 1) wegen deutlichen Schmerzzustandes und starken Bewegungseinschränkungen. Es wurde eine Ganzkörperskelettszintigraphie am 04.12.2018 durchgeführt. Des Weiteren erfolgte eine Arthroskopie des linken Kniegelenkes am 06.12.2018, bei der massive Verwachsungen und eine ausgeprägte Narbenbildung festgestellt wurden. Die Operation wurde durch den Beklagten zu 3) durchgeführt. Es wurden keine Keime nachgewiesen. Am 12.12.2018 wurde besprochen, dass bei persistierenden Beschwerden wegen der festgestellte Arthrofibrose ein Wechsel der Knieendoprothese indiziert sei. Die Klägerin holte sich am 07.03.2019 bei der MVZ Marienstift eine Zweitmeinung ein, die ebenfalls die Indikation zur Revision der Knie TEP ergeben hat.
Die Klägerin hat den Beklagten vorgeworfen, es unterlassen zu haben, trotz anhaltender Beschwerdezunahme die Indikation zu einer umfassenden Revisionsoperation zu stellen. Die Indikation dazu hätte bereits vor dem 25.10.2016 gestellt werden müssen. Aus diesem Grund sei sie binnen zweier Jahre sechsmal erfolglos operiert worden, ohne dass sich eine Besserung ergeben hätte. Spätestens bei ihrer Wiedervorstellung im Januar und März 2018 hätte eine szintigraphische Ganzbeinaufnahme erfolgen müssen. Da dies unterblieben sei, sei es zu einer Fehldiagnose gekommen. Es seien damit nicht die medizinisch notwendigen Befunde erhoben worden. Sie leide seither an erheblichen Bewegungseinschränkungen. Wären die Operationen fachgerecht durchgeführt worden, wäre es nicht zu einer Heilungsverzögerung gekommen. Sie habe daher Anspruch auf Ersatz von Erwerbsschaden, Haushaltsführungsschaden und auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 60.000,00 EUR.
Die Beklagte hat behauptet, die vorgen...