Leitsatz (amtlich)

1. Ungeachtet der darin eröffneten Spielräume zur Konkretisierung des Auftragsinhalts erlaubt es ein Verhandlungsverfahren nach VOL/A nicht, i.E. der mit dem Bieter geführten Gespräche andere Leistungen zu beschaffen als mit der Ausschreibung angekündigt; die Identität des Beschaffungsvorhabens, so wie es die Vergabestelle zum Gegenstand der Ausschreibung gemacht hat, muss gewahrt bleiben.

2. Von einem einheitlich ausgeschriebenen Auftrag können auch im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens nicht nach Ablauf der Angebotsfrist Teile der zu erbringenden Leistung dergestalt abgespalten werden, dass ihre Verwirklichung nach Auftragserteilung zusätzlich von der Ausübung einer an keine inhaltlichen Voraussetzungen gebundenen einseitigen Option des Auftraggebers abhängt; das gilt jedenfalls dann, wenn der verbleibende „Festauftrag” ggü. dem ursprünglichen Ausschreibungsinhalt ein gegenständlich anderes Vorhaben („aliud”) darstellt.

 

Verfahrensgang

Vergabekammer Sachsen (Beschluss vom 15.10.2003; Aktenzeichen 1 SVK 96/03)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 16.04.2004; Aktenzeichen BLw 7/04)

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin vom 30.10.2003 wird der Beschluss der 1. Vergabekammer des Freistaates Sachsen vom 15.10.2003, 1 SVK 96/03, abgeändert. Der Antragsgegnerin wird untersagt, im Rahmen des unter der Bezeichnung „2001/S226-155886, Dienstleistungen in der Abfallentsorgung” unter dem 23.11.2001 Europaweit bekannt gemachten Vergabeverfahrens zur Errichtung einer nichtthermischen Restabfallentsorgungsanlage und zur Erbringung von Entsorgungsdienstleistungen mit Hilfe dieser Anlage den Auftrag auf ein Angebot der Beigeladenen zu erteilen, das in einem Bauabschnitt 1 nur die Errichtung einer mechanischen Restabfallbehandlungsanlage vorsieht und deren Vervollständigung zu einer vollständigen MBS-Anlage einer Option der Antragsgegnerin vorbehält.

2. Die Kosten des Nachprüfungsverfahrens in beiden Rechtszügen einschl. des Verfahrens nach § 118 GWB trägt die Antragsgegnerin mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt. Die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten durch die Antragstellerin im Verfahren vor der Vergabekammer war notwendig.

3. Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf bis zu 4,5 Mio. Euro festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Antragsgegnerin schrieb im November 2001 in einem Verhandlungsverfahren nach VOL/A „Dienstleistungen in der Abfallentsorgung” aus. Gegenstand des Auftrags sollte ausweislich des Ausschreibungswortlauts „die Errichtung einer (nicht-thermischen) Restabfallentsorgungsanlage und die Erbringung von Entsorgungsdienstleistungen mit Hilfe dieser Anlage” sein. Der Betrieb der schlüsselfertigen Anlage war zunächst auf eine Dauer von 15 Jahren angelegt und sollte von einer noch zu gründenden Betriebsführungsgesellschaft gewährleistet werden, an welcher der Auftragnehmer sich beteiligen sollte; in diesem Zusammenhang sollte er auch bestimmte Garantien für die Wirtschaftlichkeit des Anlagenbetriebs und die Verwertung bzw. Beseitigung der in der Anlage erzeugten Produkte und verbleibenden Abfälle übernehmen.

Die den Interessenten nach einem Teilnahmewettbewerb im April 2002 zur Verfügung gestellten Verdingungsunterlagen bezeichneten die zur Vergabe anstehenden „Hauptleistungen” u.a. wie folgt:

„Planung, Genehmigung, Lieferung, Montage (Bau), Inbetriebnahme u. s. w. einer nicht-thermischen Restabfallbehandlungsanlage mit nachfolgender weitestgehender Verwertung am vorhandenen, vorgegebenen Standort” (vgl. Unterlagen Ordner 7, Teil A, Grundlagen der Ausschreibung, S. 3 und 5).

Dem schlossen sich weitere, mit „Ausschreibungsgegenstand (Überblick)” überschriebene Erläuterungen an, denen zufolge „die im Rahmen der Anlagenlieferung und -errichtung angefragte eigentliche Restabfallbehandlung … als ein nicht-thermisches Verfahren mit weitestgehender Verwertung der Abfälle bzw. erzeugten Produkte (Beseitigungsanteil kleiner 20 %) auszuführen” sei (a.a.O. S. 6). Wörtlich wird sodann darauf hingewiesen, dieses beinhalte „aus Sicht des Auftraggebers ausdrücklich die folgenden Anlagen/Verfahren:

  • mechanisch-biologische Stabilisierung (MBS) der Restabfälle mit nachfolgender Beseitigung/Verwertung der erzeugten Produkte und Reststoffe,
  • mechanisch-biologische Behandlung (MBA) der Restabfälle mit nachfolgender Beseitigung/Verwertung der erzeugten Produkte und Reststoffe,
  • mechanisch-thermische Behandlung (MTA) der Restabfälle mit nachfolgender Beseitigung/Verwertung der erzeugten Produkte und Reststoffe sowie
  • gleichwertige Verfahren.

… Die geforderten Eigenschaften und Anforderungen sind vom Auftragnehmer zwingend einzuhalten.”

Für eine weiter gehende Konkretisierung dieser Anforderungen wird auf „Teil C, Funktionale Leistungsbeschreibung, dieser Verdingungsunterlagen” verwiesen. Dort finden sich (S. 36 f.) ergänzende Ausführungen zur Konzeption der Restabfallbehandlung, die wiederum als „in Frage kommende Behandlungskonzepte” die vorgenannten Verf...

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