Leitsatz (amtlich)
Ein Verurteilter ist "flüchtig" im Sinne von Art. 2 Abs. 1 ZP-ÜberstÜbk und Art. 68 Abs. 1 SDÜ, wenn er sich in sein Heimatland begibt und weder einer Ladung zum Strafantritt Folge leistet noch seiner Überstellung in die Bundesrepublik Deutschland zur Strafvollstreckung zustimmt. Einer Zulässigkeitsentscheidung durch das Oberlandesgericht gemäß § 71 Abs. 4 IRG bedarf es in diesem Fall nicht (§ 2 Abs. 1 ÜAG).
Tenor
Eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden ist nicht veranlasst.
Gründe
I. Das Amtsgericht Marienberg hatte den Verurteilten am 19. März 2009 wegen Wohnungseinbruchdiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Mit Beschluss vom selben Tag wurde dem Verurteilten auferlegt, 300,00 EUR an die Staatskasse zu zahlen.
Nachdem der Verurteilte der Zahlungsauflage nicht nachgekommen war, hatte das Amtsgericht Marienberg die Strafaussetzung zur Bewährung mit Beschluss vom 16. Dezember 2009 widerrufen.
Einer Ladung zum Strafantritt, die dem wieder in der Tschechischen Republik aufhältigen Verurteilten dort mit Einschreiben gegen Rückschein zugestellt worden war, hatte der Verurteilte nicht Folge geleistet. Die daraufhin aufgrund einer Ausschreibung im Schengener Informationssystem betriebene Auslieferung des Verfolgten ist daran gescheitert, dass das Bezirksgericht Usti nad Labem eine Übergabe des Verurteilten am 15. Juni 2010 abgelehnt hat, weil der Verurteilte seiner Auslieferung nicht zugestimmt hatte.
Das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Europa beabsichtigt, die Tschechische Republik um Übernahme der Vollstreckung der durch Urteil des Amtsgerichts Marienberg vom 19. März 2009 verhängten Freiheitsstrafe zu ersuchen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, die Vollstreckung der gegen den Verurteilten verhängten Freiheitsstrafe in der Tschechischen Republik für zulässig zu erklären.
II. Eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden ist nicht veranlasst, weil das Oberlandesgericht nicht gemäß § 71 Abs. 4 IRG zu einer Zulässigkeitsentscheidung berufen ist.
Das beabsichtigte Vollstreckungshilfeersuchen richtet sich nach Art. 2 des Zusatzprotokolls vom 18. Dezember 1997 zu dem Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen (ZP-ÜberstÜbk) sowie Art. 68, 69 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ). In diesen Fällen ist § 71 Abs. 4 IRG jedoch nicht anzuwenden (§ 2 Abs. 1 ÜAG).
Die Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 1 ZP-ÜberstÜbk und Art. 68 Abs. 1 SDÜ liegen vor, insbesondere befindet sich der Verurteilte auf der Flucht im Sinne dieser Bestimmungen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Begriff der Flucht bereits durch die schlichte Rückkehr des Verurteilten in sein Heimatland erfüllt ist (KG Berlin NJW 2008, 675 mit Anmerkung Böhm) oder derjernige Verurteilte grundsätzlich nicht flüchtig ist, der sich ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der Straftat in sein Heimatland begibt (Böhm, NJW 2008, 677; Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. § 112 Rdnr. 13). Jedenfalls ist eine Flucht dann anzunehmen, wenn der Verurteilte entweder einer Ladung zum Strafantritt keine Folge leistet oder aber andere Indizien seinen fehlenden Gestellungswillen zweifelsfrei belegen. Denn für das Merkmal der Flucht in Art. 2 Abs. 1 ZP-ÜberstÜbk, Art. 68, 69 SDÜ kommt es maßgeblich darauf an, ob sich der Verurteilte der eingeleiteten Strafvollstreckung entziehen will (Böhm NJW 2008, 677; Senatsbeschluss vom 12. Januar 2010, 2 Ws 420/09).
So liegt der Fall hier. Der Verurteilte ist seiner Ladung zum Strafantritt nicht gefolgt. Zudem ergibt sich sein fehlender Wille zu einer Strafvollstreckung in der Bundesrepublik Deutschland auch daraus, dass der Verurteilte seiner Auslieferung zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht zugestimmt hat.
Dieses Ergebnis wird auch von dem gesetzgeberischen Willen getragen, wie er in dem Gesetz zur Änderung des Überstellungsausführungsgesetzes und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 17. Dezember 2006 (BGBl. I 3175) zum Ausdruck kommt. Wenn sich der Verurteilte der Vollstreckung der freiheitsentziehenden Sanktion in der Bundesrepublik Deutschland durch Flucht entzogen hat, so ist im Vergleich zu den durch Art. 3 ZP-ÜberstÜbk geregelten Ausweisungs-/Abschiebefällen das Rechtsschutzbedürfnis des Verurteilten von geringerer Ausprägung. Da sich der Verurteilte bewusst in eine fremde Rechtsordnung begegen hat, scheidet ein schützenswertes Interesse beispielsweise an der Prüfung der Frage, ob er im ersuchten Staat politisch verfolgt wird (§ 71 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 6 Abs. 2 IRG), aus. Bei der Beurteilung des Rechtsschutzinteresses ist ferner zu berücksichtigen, dass im Falle der Flucht des Verurteilten der ersuchte Staat die volle Souveränität über den Verfolgten besitzt. Er kann seitens des ersuchenden Staates beispielsweise nicht daran gehindert werden, den Flüchtigen entgegen Art. 3 Abs. 4 ZP-ÜberstÜbk unter Spezialitätsverstoß wegen anderweitiger Strafta...