Leitsatz (amtlich)
Der Wortlaut des § 85c Nr. 2 IRG, wonach der zu überstellende Verurteilte "gemäß § 50 des Aufenthaltsgesetzes ... zur Ausreise aus der Bundesrepublik verpflichtet" sein muss, ist in den Fällen von Straftätern aus EU-Mitgliedsländern, für die sich wegen des Gesetzesvorrangs des FreizügigG/EU die Ausreiseverpflichtung nicht aus dem Aufenthaltsgesetz (§ 50 Abs. 1 AufenthG) sondern aus der Spezialvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügigG/EU ergibt, teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass nur die Durchführung der Überstellung (§ 50 Abs. 3 AufenthG) nach den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu erfolgen hat.
Verfahrensgang
AG Leipzig (Entscheidung vom 15.09.2016) |
Tenor
Die Übertragung der Vollstreckung des Urteils des Amtsgerichts Leipzig vom 15. September 2016 auf die Republik Polen ist zulässig.
Gründe
I.
Der Verurteilte ist durch das in der Beschlussformel genannte Erkenntnis wegen Computerbetrugs in zwei Fällen unter Einbeziehung bereits früher rechtskräftig erkannter Einzelstrafen aus Urteilen der Amtsgerichte Kassel vom 10. November 2015 und Berlin-Tiergarten vom 20. August 2014 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden; das Urteil ist seit dem 23. September 2016 rechtskräftig.
Die Strafe wird in der Justizvollzugsanstalt K. vollstreckt. Zwei Drittel der Strafe werden am 03. April 2018 verbüßt sein. Das Strafende ist für den 03. August 2019 vorgemerkt.
Die Stadt Berlin (Ausländerbehörde) hat mit Verfügung vom 27. Januar 2017 dem Verurteilten gemäß § 6 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) inzwischen bestandskräftig den Verlust seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet aberkannt (Az.: IV B 412 - 008112600747). Gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU ist der Verurteilte deshalb zur unverzüglichen Ausreise aus dem Bundesgebiet verpflichtet.
Die Staatsanwaltschaft Leipzig als Strafvollstreckungsbehörde erwägt, die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 (Rb-Freiheitsstrafen), geändert durch Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009, der Republik Polen zu übertragen. Der Verurteilte ist hierzu am 18. Mai 2017 in der Justizvollzugsanstalt angehört worden; er hat einer Übertragung der Vollstreckung nicht zugestimmt.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat auf Anregung der Staatsanwaltschaft Leipzig beantragt, die Übertragung der Vollstreckung des verfahrensgegenständlichen Urteils auf die Republik Polen für zulässig zu erklären.
II.
Die Übertragung der Vollstreckung des Urteils des Amtsgerichts Leipzig vom 15. September 2017 auf die Republik Polen ist zulässig.
Das zu vollstreckende Urteil ist rechtskräftig. Mit ihm ist eine freiheitsentziehende Sanktion verhängt worden. Zudem ist das Straferkenntnis einschließlich derjenigen, welche den einbezogenen früheren Einzelstrafen zugrunde lagen, nicht vor dem 05. Dezember 2011 ergangen (§ 98b IRG). Schließlich war dem Verurteilten auch Gelegenheit gegeben worden, sich mündlich zu der staatsanwaltschaftlich erwogenen Überstellung zu äußern (Art. 6 Abs. 3 S. 1 des Rb-Freiheitsstrafen, § 85 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen [IRG]). Die Voraussetzungen des § 85c IRG liegen vor.
1. Nach § 85c IRG ist die Vollstreckungsübertragung einer freiheitsentziehenden Sanktion auf einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zulässig, wenn
a) der zum Entscheidungszeitpunkt in Deutschland sich aufhaltende Verurteilte kein deutscher Staatsangehöriger ist und er
entweder
- die Staatsangehörigkeit des anderen EU-Staates besitzt und (kumulativ) dort seinen Lebensmittelpunkt hat (§ 85c Nr. 1 IRG)
oder
- der Verurteilte gemäß § 50 des Aufenthaltsgesetzes nach Feststellung der zuständigen Stelle zur Ausreise aus der Bundesrepublik verpflichtet ist (§ 85c Nr. 2 IRG)
und
b) nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses Freiheitsstrafen (Rb-Freiheitsstrafen) die soziale Wiedereingliederung des Verurteilten in seinem Heimatland oder in dem Land, in dem er sich regelmäßig aufhält, erleichtert wird, vgl. BT-Drs. 18/4347, S. 33.
2. Die Zulässigkeit der Vollstreckungsübertragung kann vorliegend - ungeachtet der Wertungsvorgaben aus dem Rb-Freiheitsstrafen - nicht auf § 85c Nr. 1 IRG gestützt werden.
Der Verurteilte ist zwar polnischer Staatsangehöriger und damit Staatsangehöriger der für die Übertragung der Vollstreckung in Aussicht genommenen Republik Polen. Aber er hat seinen für § 85c Nr. 1 IRG maßgeblichen Lebensmittelpunkt nicht in der Republik Polen, sondern in der Bundesrepublik Deutschland.
Als Lebensmittelpunkt wird - in europarechtskonformer Auslegung des Art. 6 Abs. 2 lit. a) in Verbindung mit dem Erwägungsgrund 17 des Rb-Freiheitsstrafen - der Ort oder Staat bezeichnet, mit dem der Verurteilte aufgrund seines gewöhnlichen Aufenthaltes und aufgrund von Aspekten wie familiären, sozialen oder beruflichen Bindungen verbunden ist.
Danach ist im vorliegenden Fall der für § 85c ...