Leitsatz (amtlich)
1. Die Grundsätze eines fairen Verfahrens und die hieraus abzuleitende Fürsorgepflicht gebieten es dem Berufungsgericht, vor einer Verwerfung der Berufung wegen nicht genügend entschuldigten Ausbleibens des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO eine den Umständen nach angemessene Zeit, die in der Regel 15 Minuten beträgt, zuzuwarten. Eine Wartezeit ist auch nach kürzeren Unterbrechungen während eines Verhandlungstages ("Verhandlungspausen") vor einer Entscheidung nach § 329 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO einzuhalten.
2. Verwirft das Berufungsgericht die Berufung unter Bezugnahme auf § 329 Abs. 1 StPO, ohne die Wartezeit einzuhalten, und erscheint hiernach der Angeklagte noch vor Ablauf der Wartefrist am Sitzungssaal, ist ihm auf seinen Antrag nach § 329 Abs. 7 Satz 1 StPO analog Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Insoweit steht der nichtsäumige dem säumigen Angeklagten gleich.
Verfahrensgang
LG Dresden (Entscheidung vom 08.02.2021; Aktenzeichen 11 Ns 930 Js 33984/19) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Dresden vom 08. Februar 2021 aufgehoben.
Der Angeklagten wird auf ihre Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungshauptverhandlung vom 07. Januar 2021 gewährt.
Das Urteil des Landgerichts Dresden vom 07. Januar 2021, mit dem es die Berufung der Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Riesa vom 07. Juli 2020 verworfen hat, und die hiergegen gerichtete Revision der Angeklagten sind gegenstandslos.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Riesa hat am 07. Juli 2020 die Angeklagte wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in sechs Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 15,00 Euro verurteilt. Ferner hat das Amtsgericht ihr die Fahrerlaubnis entzogen, den Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, der Angeklagten vor Ablauf von acht Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.
Über die hiergegen von der Angeklagten form- und fristgerecht eingelegte Berufung hat das Landgericht Dresden am 07. Januar 2021 ab 13:00 Uhr verhandelt. Nach dem Ende einer vom Kammervorsitzenden angeordneten Unterbrechung, die von 13:32 Uhr bis 13:45 Uhr gedauert hat, ist die zuvor anwesende Angeklagte nicht wieder erschienen. Nach erneuter Unterbrechung, die ausweislich des Sitzungsprotokolls um 13:52 Uhr geendet hat, hat die Berufungskammer unter Bezugnahme auf § 329 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO die Berufung der nun weiterhin abwesenden Angeklagten durch Urteil verworfen. Zur Begründung ist ausgeführt, nach einer Unterbrechung sei die Fortführung der Hauptverhandlung dadurch verhindert worden, dass die ordnungsgemäß geladene und belehrte Angeklagte sich ohne genügende Entschuldigung entfernt habe. Nicht zurückzukehren, habe die Angeklagte bereits bei Verlassen des Sitzungssaales zu Beginn der Unterbrechung angekündigt.
Gegen das ihrem Verteidiger am 13. Januar 2021 zugestellte Urteil vom 07. Januar 2021 hat die Angeklagte mit Schriftsatz ihres Verteidigers am 20. Januar 2021 Revision eingelegt. Zugleich hat sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungshauptverhandlung beantragt. Zur Begründung trägt die Angeklagte im Wesentlichen vor, sie habe sich während der Unterbrechung der Hauptverhandlung vor dem Gerichtsgebäude mit ihrem Verteidiger beraten, der sich geweigert habe, eine - seiner Auffassung nach unrechtmäßige - Anordnung des Präsidenten des Landgerichts zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung oder, im Falle eines ärztlichen Attests über die Befreiung hiervon, eines Plexiglas-Gesichtsvisiers auf den Gerichtsfluren zu befolgen, und dem deswegen der Zutritt zum Gebäude und damit die Teilnahme an der Hauptverhandlung verwehrt worden sei. Um 13.45 Uhr sei sie ins Gebäude zurückgekehrt, habe die Toilette aufgesucht und sei hiernach spätestens um 13.53 Uhr an der Tür zum Sitzungssaal angelangt. Dort habe sie von dem Kammervorsitzenden, der gerade mit den Schöffen und der Urkundsbeamtin den Saal verlassen habe, erfahren, dass die Berufung verworfen worden sei. Wegen der Einzelheiten des Wiedereinsetzungsvorbringens wird auf die Antragsschrift des Verteidigers vom 20. Januar 2021 Bezug genommen. Zur Glaubhaftmachung dieses Vorbringens beruft sich die Angeklagte auf die schriftlichen Angaben einer Zeugin, die sie zur Hauptverhandlung begleitet habe.
Mit Beschluss vom 08. Februar 2021 hat das Landgericht Dresden den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Hauptverhandlung als unbegründet verworfen. Hiergegen hat die Angeklagte durch ihren Verteidiger am 14. Februar 2021 sofortige Beschwerde eingelegt. Mit Schriftsatz vom 22. Februar 2021 hat der Verteidiger der Angeklagten die Revision mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, die sofortige Beschwerde wie auch die Revision als unbegründet zu verwerfe...