Leitsatz (amtlich)
Bei unterlassener Befunderhebung kommt zugunsten des Patienten nur dann eine Beweiserleichterung in Betracht, wenn der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein medizinisch positives Ergebnis gehabt hätte. Von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit kann jedenfalls dann nicht gesprochen werden, wenn das mutmaßliche Ergebnis des Befundes völlig offen und die Wahrscheinlichkeit nicht höher als mit 50 % anzusetzen ist.
Verfahrensgang
LG Zwickau (Aktenzeichen 3 O 0583/00) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des LG Zwickau vom 19.11.2001 (3 O 583/00) wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahren einschließlich der durch die Nebenintervention entstandenen Kosten zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten abwenden durch Sicherheitsleistung i.H.v. 5.500 EUR und der Nebenintervenienten durch Sicherheitsleistung i.H.v. jeweils 7.000 EUR.
Die Sicherheiten können durch selbstschuldnerische, schriftliche, unwiderrufliche, unbedingte und unbefristete Bürgschaft eines im Inland zum Geschäftsbetrieb befugten Kreditinstituts erbracht werden.
Beschluss
Streitwert des Berufungsverfahrens einschließlich der Nebenintervention: 150.000 DM = 76.693,78 EUR.
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der Beklagten, einer Fachärztin für Gynäkologie, Schadensersatz wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung.
Die im Jahr 1964 geborene Klägerin war seit Ende 1997 schwanger und deswegen bei der Beklagten seit dem 11.12.1997 in ärztlicher Behandlung. Seit dem 12.3.1998 behandelte die Beklagte sie zusätzlich wegen einer juckenden Entzündung der Vulva. Vom 1. bis 17.8.1998 befand sie sich in ärztlicher Behandlung des Kreiskrankenhauses (Nebenintervenient zu 1), am 11.8.1998 wurde sie von einem gesunden Kind entbunden. Bei der Entlassungsuntersuchung am 16.8.1998 wurde ein pathologischer Befund der Vulva angegeben: „Links: 3 cm × 2 cm große ödematös erhabene, gerötete Stelle mit weißlichen Belägen; rechts: ähnliche Veränderung 1 cm × 1 cm groß”. Der Nebenintervenient zu 1 empfahl, die Behandlung mit einem Antimykotikum vorerst weiterzuführen und, wenn keine Besserung eintrete, eine Probeexzision vorzunehmen.
Vier Wochen nach der Entbindung stellte sich die Klägerin wegen erheblicher vulvärer Beschwerden wieder bei der Beklagten vor, die nun ebenfalls eine Hautveränderung an der linken Labie dokumentierte. Die Untersuchung des entnommenen zytologischen Abstrichs erbrachte die Empfehlung zur histologischen Abklärung. Am 30.9.1998 ließ die Klägerin die Probeexzision im Kreiskrankenhaus durchführen. Das Ergebnis der histologischen Untersuchung lautete: Paget-Erkrankung mit Entwicklung eines Adenokarzinoms.
Die Klägerin hat vorgetragen:
Sie habe die Beklagte erstmals Ende April 1998 auf sichtbare weiße Stellen an der Vulva hingewiesen. Diese habe es seit Beginn der Behandlung grob fehlerhaft unterlassen, die erforderlichen Befunde zu erheben, insbesondere eine histologische Untersuchung zu veranlassen. Die Beklagte habe bereits im März 1998 die Symptome, die auf die Paget-Erkrankung hingewiesen hätten, fehlerhaft interpretiert. Wenn sie sogleich zu Beginn der Behandlung die histologische Untersuchung veranlasst hätte, wäre die Krebserkankung bereits acht Monate früher entdeckt worden, so dass die bösartigen Veränderungen, das infiltrative Wachstum und die flächenhafte Ausdehnung des Tumors hätten verhindert werden können. In diesen Fall wäre auch die Operation weniger gravierend und die anschließende Chemotherapie mit ihren Beeinträchtigungen überhaupt nicht erforderlich gewesen.
Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie – die Klägerin – ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 120.000 DM, zuzüglich 4 % Zinsen seit dem 11.5.2000 zu zahlen;
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr alle künftigen immateriellen sowie die materiellen Schäden für Vergangenheit und Zukunft zu ersetzen, die ihr durch die fehlerhafte Behandlung der Beklagten ab 31.3.1998 entstanden sind und künftig noch entstehen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen:
Bis zum September 1998 hätten keine Anhaltspunkte für ein Karzinom vorgelegen; dieses hätte auch bei frühzeitiger Erkennung im Rahmen einer Vulvektomie entfernt werden müssen.
Das LG hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen (Bl. 247–266). Wegen des Ergebnisses der erstinstanzlichen Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Sachverständigengutachten und die Sitzungsniederschriften Bezug genommen (Bl. 98–103, Bl. 132–147, Bl. 219–224). Zur Begründung hat das LG im Wesentlichen ausgeführt: Der Feststellungsantrag sei unzulässig, soweit er materielle Schäden mitumfasse, welche der Klägerin bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden seien. Im Übrigen sei die Klage unbegründet. Zwar habe die ...