Leitsatz (amtlich)
1. Ein Befunderhebungsfehler - durch Unterlassen - kann dann haftungsbegründend dem behandelnden Arzt (hier Hausarzt) anzulasten sein, wenn bei weiterer (hier unterlassener) Befunderhebungen ein reaktionspflichtiger Befund festgestellt worden wäre, der seinerseits weitere Behandlungsmaßnahmen zwingend erforderlich gemacht hätte, die, falls sie unterlassen worden wären, dann ihrerseits als grob fehlerhaft zu bewerten gewesen wären mit der Folge einer Beweislastumkehr für die Patientenseite in Bezug auf die Kausalität des eingetretenen Primärschadens.
2. Grundsätzlich ist schon das Nichterkennen einer (erkennbaren) Erkrankung und der sie kennzeichnenden Symptome als Behandlungsfehler (in der Form eines Diagnosefehlers) zu werten. Irrtümer bei der Diagnosestellung sind jedoch nicht selten, weil die Symptome einer Erkrankung nicht immer eindeutig sind. Diagnosefehler, die objektiv auf eine Fehlbefundung zurückzuführen sind, können daher nur mit Zurückhaltung als relevante Behandlungsfehler gewertet werden; allerdings gilt dies nicht für eine Fehlbefundung von Symptomen, die für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnend sind.
3. Die Unterlassung einer - angesichts der Unsicherheit der Diagnose - erforderlichen Überprüfung der Diagnose, also die Nichterhebung gebotener weiterer Befunde kann daher haftungsbegründend wirken, wenn der erste Befund auch den Verdacht einer Erkrankung nahe legt, die zwingend behandlungsbedürftig ist und die - auf Grund fehlerhafter Erstdiagnose - notwendige Behandlung (der nicht deutlich erkannten Krankheit) nur deshalb unterbleibt, weil der Erstbefund fehlerhaft und trotz notwendiger Abklärung eine weitere Befunderhebung unterlassen worden war.
Denn für die gehörige Erhebung der faktischen Grundlagen für eine differenzierte Diagnostik und Therapie gilt - zum Wohl des Patienten - ein strenger Maßstab. Maßstab ist stets, was der (jeweilige) medizinische Standard gebietet, also was im konkreten Fall dem Qualitätsstandard einer sachgerechten Behandlung entspricht. Dabei sind bei schwer wiegenden Risiken für den Patienten - wie hier dem drohenden Herzinfarkt - auch vom behandelnden Arzt für unwahrscheinlich gehaltene Gefährdungsmomente auszuschließen. Bei Berücksichtigung dieses - strengen - Sorgfaltsmaßstabs darf der Arzt dem Patienten nicht die weitere Entscheidung darüber überlassen, ob dieser sich einer notwendigen klinischen Untersuchung zur differentialdiagnostischen Abklärung des Erstbefundes stellt.
4. Ein Verschulden des Arztes ist dann zu bejahen, wenn er aus seiner Sicht zur Zeit der Diagnosestellung entweder Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der gestellten Diagnose hatte oder aber solche Zweifel gehabt und sie nicht beachtet hat.
Normenkette
BGB a.F. § 823 Abs. 1; EGBGB Art. 229 § 5 S. 1
Verfahrensgang
LG Meiningen (Urteil vom 03.11.2004; Aktenzeichen 3 O 697/02) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des LG Meiningen vom 3.11.2004 - 3 O 697/02 - abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 8.727,10 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.11. 1999 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits fallen dem Beklagten zur Last.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert der Berufung beträgt 8.727,10 EUR.
Gründe
I. Die Klägerin ist die Tochter und Miterbin des am 24.10.1998 an den Folgen eines akuten Herzinfarktes - hervorgerufen durch eine schwere Koronararteriensklerose - verstorbenen P. F.. Sie nimmt aus eigenem und abgetretenem Recht ihrer Mutter, der in 1. Instanz als Zeugin gehörten R. F., den Beklagten wegen fehlerhafter Behandlung am 22.10. 1998 auf Ersatz von Beerdigungs- und Autopsiekosten in Anspruch.
Der Verstorbene erlitt am 22.10.1998 gegen 17.20 Uhr einen heftigen Schmerzanfall im Bereich des Oberbauchs. Der als Hausarzt hinzugerufene Beklagte diagnostizierte nach Untersuchung eine akute Gallenblasenkolik, verabreichte eine schmerzstillende Spritze und verschrieb schmerzstillende und krampflösende Medikamente (Tramal und Buscopan). Weiter schrieb er - vorsorglich - eine stationäre Einweisung aus. Nach zwischenzeitlicher Besserung der Beschwerden am nächsten Tag traten in den Morgenstunden des 24.10.1998 erneut heftige Schmerzen auf; es kam zu einer dramatischen Verschlechterung. Der herbei gerufene Notarzt konnte den Tod von Herrn F. nicht mehr verhindern. Herr F. verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus im Alter von 55 Jahren. Nach dem Obduktionsbefund des Arztes Dr. L. wurde als Todesursache eine Ruptur des Herzmuskels mit nachfolgender Herzbeuteltamponade als Folge einer hochgradig stenosierenden Koronararteriensklerose mit akutem Herzinfarkt festgestellt (s. Bericht vom 26.10.1998); unauffällig blieben die Gallenblase und die Gallenwege.
Die Parteien streiten im Wesentlichen (noch) über die Fragen einer fehlerhaften Diagnose (akute Gallenblasenentzündung) und die Notwendigkeit einer weiteren diagnostischen Abklärung (Befunderhebung), die, da diese der Hausarzt...