Leitsatz (amtlich)

1. Für einen bei einem Wettkampf eingesetzten Sportarzt gilt nicht der Behandlungsstandard eines Notfallmediziners, sondern der eines Allgemeinmediziners mit Schwerpunkt Sportmedizin.

2. Bei einer sog. Aushülsverletzung entspricht die Lagerung eines Decollements, bei der dieses direkt mit Eis in Berührung kommt, nicht dem medizinischen Standard.

3. Die in erster Instanz protokollierten tatsächlichen Angaben einer im Anschluss verstorbenen Prozesspartei können im Berufungsverfahren im Wege des Urkundenbeweises auch ohne Zustimmung der Gegenseite verwertet werden.

 

Verfahrensgang

LG Chemnitz (Urteil vom 24.11.2015; Aktenzeichen 4 O 2311/11)

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des LG Chemnitz vom 24.11.2015 - 7 O 1747/14 - wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin bis auf die Kosten des Streithelfers, die dieser selber trägt.

3. Das Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Beschluss:

Der Streitwert wird auf 20.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. (Von der Aufnahme des Tatbestandes wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO abgesehen.)

II. Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg. Die Klägerin kann von der Beklagten wegen der behaupteten ungenügenden Versorgung ihrer am 03.02.2008 in C. erlittenen Avulsionsverletzung (Hautablederung bzw. Aushülsverletzung, bei der Haut von muskulären und knöchernen Anteilen des Fingers abgestreift wird) gemäß §§ 280 Abs. 1, 823 Abs. 1, 831 Abs. 1, BGB die Zahlung eines Schmerzensgeldes nicht verlangen.

Die Klägerin, die für die Voraussetzungen des von ihr geltend gemachten Schmerzensgeldanspruches die Darlegungs- und Beweislast trägt, hat nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen, dass dem verstorbenen, vormaligen Beklagten Dr. S. ein schuldhafter Behandlungsfehler im Rahmen der von ihm vorgenommenen Erstversorgung der Verletzung anzulasten ist.

1. Dr. S. ist aufgrund eines Behandlungsvertragsverhältnisses tätig geworden. Er war nach dem Vortrag der Beklagten vom Deutschen Leichtathletik Verband als Sportarzt zur Betreuung des Sportwettkampfes eingesetzt und befand sich nicht nur zufällig vor Ort (vgl. zur Abgrenzung OLG München Urt. v. 06.04.2006, - 1 U 4142/05 -, juris). Daher ist sein Pflichtenkreis im Verhältnis zur Klägerin, die zum Unfallzeitpunkt zwar nicht in einem Wettkampf stand, aber unstreitig zu den Teilnehmern dieses Sportwettkampfes gehörte, nicht wie der eines Ersthelfers zu bewerten. Vielmehr war die Klägerin von dem die Veranstaltung betreuenden Arzt im Rahmen seines Behandlungsauftrags zu behandeln und insofern in den Schutzbereich dieses Vertrages einbezogen.

2. Allerdings hat sich die Beurteilung, ob Dr. S. bei der Versorgung der Avulsionsverletzung der Klägerin Behandlungsstandards verletzt hat, nicht an den Anforderungen auszurichten, die an einen ausgebildeten Notfallmediziner zu stellen sind, der speziell für den Umgang mit einer besonderen Notfallsituation, wie sie hier vorlag, ausgebildet und geschult wird. Es handelte sich gerade nicht um eine typischerweise im Verlauf einer sportlichen Wettkampfveranstaltung zu erwartende Verletzung, mit der ein Sportarzt rechnen konnte und musste. Es ist daher auf den Facharztstandard eines Allgemeinmediziners mit Schwerpunkt Sportmedizin abzustellen.

3. Ein nach diesen Maßstäben behandlungsfehlerhaftes Vorgehen des Dr. S. s hat die Klägerin nicht beweisen können. Es steht auch im Anschluss an die Beweisaufnahme nicht zur Überzeugung des Senats fest, dass Dr. S. bei der Lagerung des Decollements (Hautexplantat) von den hierfür geltenden medizinischen Standards abgewichen ist.

a) Die als Allgemein- und Sportmedizinerin tätige Sachverständige hat keine von einer Fachgesellschaft publizierte Empfehlung für den Umgang mit Avulsionsverletzungen feststellen können und deshalb zur Beurteilung des Standards, der anzuwenden ist, auf die Empfehlung der AWMF-Leitlinie zur Lagerung von amputierten Körperteilen abgestellt, die zwar erst 2011 veröffentlicht wurde, zuvor aber schon bekannt gewesen sei und den seinerzeit maßgeblichen medizinischer Standard zutreffend abgebildet habe. Danach sollte das Amputat grob gereinigt und in sterile, feuchte Kompressen gewickelt werden. Ferner sollte es indirekt gekühlt transportiert werden, wenn möglich mit der "Doppelkammerbeutelmethode". Dabei sei ein sekundärer Kälteschaden zu vermeiden (kein direkter Kontakt von Eis mit dem Gewebe). Bezogen auf den vorliegenden Fall kommt die Sachverständige sodann zu dem Ergebnis, dass eine direkte Lagerung des Decollements auf Eis oder in Eiswasser wegen irreversibler Schädigungen des Gewebes durch Erfrierungen und/oder infolge Gewebsaufquellungen als medizinischer Fehler zu bewerten wäre, da dies eine Retransplantation unmöglich gemacht haben würde.

b) Es steht indes aufgrund der informatorischen Anhörungen der Klägerin und des Dr. S. nicht mit der für eine Überzeugungsbildung notwendigen Sicherheit fest, dass Dr. S. bei der La...

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