Leitsatz (amtlich)
1. Ein Radiologe, dem ein Patient mit der Befundbeschreibung "Kopfschmerzen" zum MRT überwiesen wird, darf auch von einem sichtbaren Nebenbefund außerhalt des Gehirnschädels nicht die Augen verschließen.
2. Ist er in medizinischer Sicht nicht selbst verpflichtet, diesen Zufallsbefund abzuklären, hat er ihm im Arztbrief an den überweisenden Behandler aufzunehmen.
3. Unterbleibt diese Mitteilung, weil der Radiologe einen erkennbaren Nebenbefund übersieht, stellt dies einen Diagnosefehler dar.
Verfahrensgang
LG Dresden (Aktenzeichen 6 O 2250/19) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichtes Dresden vom 10.03.2023 - 6 O 2250/19 - wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
3. Das Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht vor der Vollstreckung die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 57.600 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger begehrt von der Beklagten Schmerzensgeld und Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung von Schadensersatz wegen behaupteter fehlerhafter ärztlicher Behandlung.
Der am 10.04.1980 geborene Kläger stellte sich bei seinem Hausarzt Dr. S... im März und im April 2014 mit Kopfschmerzen vor. Dieser überwies ihn zur Abklärung der Kopfschmerzen zum MRT (Anlage B1). Im Arztbrief vom 21.05.2014 an den Hausarzt wird ein altersentsprechender und unauffälliger Befund geschildert (Anlage K 1). Am 21.01.2015 stellte sich der Kläger beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt Dr. T... wegen eines seit einigen Wochen bestehenden Tinnitus und Schwindelbeschwerden vor. Wegen verstärkten Schwindels und Kopfschmerzen sowie Ohrdruck suchte der Kläger im September 2015 die HNO-Ärztin Dr. L... auf. Ein am 14.09.2015 erstelltes CT ergab destruierende Knochenveränderungen sowie eine ausgedehnte Cholesteatombildung. Bei dem nachfolgenden Eingriff in der Universitätsklinik Dresden wurde das ausgedehnte Cholesteatom der linken Felsenbeinspitze entfernt, wodurch es zu einer linksseitigen Facialisparese und einem inkompletten Lidschluss kam. Am 03.09.2018 wurde bei einem weiteren Eingriff ein großes Cholesteatomrezidiv im linken Ohr entfernt und die Gesichtsmuskulatur bei bleibender Facialisparese stabilisiert.
Im Rahmen eines vom Kläger eingeleiteten Schlichtungsverfahrens wurden ein radiologisches Gutachten sowie ein HNO-ärztliches Gutachten eingeholt (Anlagen K7 bis K9).
Der Kläger hat unter Bezugnahme auf die Ausführungen der Gutachter im Schlichtungsverfahren die Auffassung vertreten, die Befunderhebung und Auswertung des MRT vom 20.05.2014 durch die Beklagte seien grob behandlungsfehlerhaft gewesen. Die sichtbare Läsion sei nicht beschrieben und eine weitere Befunderhebung nicht veranlasst worden. Die Beklagte hätte darauf hinweisen müssen, dass die Läsion mit der Diagnose eines Cholesteatoms vereinbar ein und daher ein CT hätte eingeholt werden müssen. Durch die infolge dessen eingetretene Verzögerung der Diagnose und die Operation habe sich die Wahrscheinlichkeit für eine Komplikation erhöht, da das Cholesteatom weiter gewachsen sei. Bei einer rechtzeitigen Diagnose und Behandlung hätte dies vermieden werden können. Der Kläger habe nunmehr eine bleibende Facialisparese, Gleichgewichtsstörungen, Schmerzen im Gesicht und im Ohrbereich sowie weitere Beeinträchtigungen. Der Eintritt von weiteren Schäden sei möglich.
Das Landgericht hat verschiedene Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. T... (Radiologie) sowie Prof. Dr. H... (Hals-Nasen-Ohren) eingeholt und die Klage mit Urteil vom 10.03.2023 abgewiesen. Es hat einen einfachen Behandlungsfehler im Rahmen der MRT-Befundung bejaht, aber die Ursächlichkeit für den eingetretenen Schaden nicht feststellen können.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er beanstandet, dass das Landgericht auf der Grundlage der sachverständigen Feststellungen von einem Diagnosefehler ausgegangen sei. Es handele sich vielmehr um einen Befunderhebungsfehler. Denn der auffällige und abklärungsbedürftige Befund hätte dem Hausarzt mitgeteilt werden müssen, damit dieser eine weitere Untersuchung hätte veranlassen können. Dementsprechend sei eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität eingetreten. Bei einer rechtzeitigen CT-Untersuchung bereits im Mai oder Juni 2014 wäre das Cholesteatom erkannt und operiert worden, die Facialisparese wäre dann unter Umständen nicht eingetreten. Das Risiko, eine solche zu erleiden, sei bei einer späteren Operation generell höher. Des Weiteren habe der Kläger auch andere gesundheitliche Beeinträchtigungen durch den Behandlungsfehler erlitten; so habe die letzte Operation im Jahre 2018 zu einem Gehörgangsverschluss geführt, wonach er auf dem linken Ohr taub sei. Hinzu kämen Gleichgewichtsprobleme, chronische Schmerzstörungen mit somatischen und psychischen Faktoren,...