Leitsatz (amtlich)
1. Ein Rechtsanwalt muss dem Mandanten die mit einer Klageerhebung verbundenen Risiken nicht nur benennen, sondern auch deren ungefähres Ausmaß abschätzen. Ist eine Klage aussichtslos, muss er das klar herausstellen und darf sich nicht mit dem Hinweis begnügen, die Erfolgsaussichten seien offen.
2. Der Rechtsanwalt verstößt nicht gegen seine Mandatspflicht, wenn er nach genügender Belehrung dem Wunsch des Mandanten nachkommt, die Rechtsverfolgung auf eine juristische Meinung zu stützen, die allenfalls noch vertretbar erscheint.
3. Eine besondere Nachdrücklichkeit der Belehrung ist nicht erforderlich, ebenso wenig wie eine Wiederholung vorgenommener Belehrungen. Es ist nicht Aufgabe des Rechtsanwalts, dem Mandanten grundlegende Entschlüsse in eigenen Angelegenheiten abzunehmen.
4. Der Anscheinsbeweis beratungsgerechten Verhaltens greift nicht, wenn der Mandant ein atypisches Verhalten zeigt. Ein solches kann vorliegen, wenn sich der Mandant "beratungsresistent" verhält und trotz genügender Belehrung zu den Risiken der Rechtsverfolgung an dieser unbeirrt festhalten will.
Verfahrensgang
LG Wuppertal (Aktenzeichen 3 O 428/18) |
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Der Klägerin wird Gelegenheit gegeben, hierzu binnen drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses Stellung zu nehmen.
Der auf den 22. September 2020 bestimmte Termin zur mündlichen Verhandlung wird aufgehoben.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf EUR 39.130,61 festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin macht gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche aus behaupteter defizitärer Beratung und Vertretung in einem zivilgerichtlichen Verfahren gegen das Land ..., ihren vormaligen Arbeitgeber, geltend.
Zu einem zwischen den Parteien streitigen Zeitpunkt trat die Klägerin an den Beklagten heran. Sie war seit dem 10. März 2003 durchgängig dienstunfähig und wurde 2004 in den Ruhestand versetzt. Ihre Pensionierung führt die Klägerin auf eine durch Mobbing seitens einer Dienstvorgesetzten hervorgerufene Arbeitsunfähigkeit zurück. Ein von ihr gegen das Land betriebenes verwaltungsgerichtliches Verfahren blieb erfolglos.
Am 19. Januar 2011 übersandte der Beklagte, der seinerzeit bei der ... Rechtsanwälte GbR in ... tätig war, an die Klägerin eine Vertretungsvollmacht mit der Bitte um Rücksendung im Hinblick auf eine etwaige zivilrechtliche Vertretung (Anl. K 12, Anlagenband I = AI 14-15). Mit Schreiben vom 21. Oktober 2011 (Anl. 4, AII 6-7) übersandte er der Klägerin den Klageentwurf für ein Zivilverfahren vor dem Landgericht Essen. In einem Begleitschreiben führte er u.a. aus:
"Der Unterzeichner hatte darauf hingewiesen, dass ein Erfolg der Klage höchst unsicher ist.... Des Weiteren könnte sich ein Problem aus einer möglichen Verjährung des Anspruchs ergeben. Darüber hatten wir bereits mehrfach gesprochen. Bislang hat die Behörde eine Verjährung des Anspruchs nicht geltend gemacht. Sie kann dies aber jederzeit im gerichtlichen Verfahren nachholen. Sofern dies geschieht können wir allenfalls geltend machen, dass Sie aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage waren, den Anspruch früher geltend zu machen."
Auf Anregung der Klägerin wurde die Klageschrift überarbeitet. Mit Schreiben vom 8. November 2011 (Anl. 5, AII 8-9) übersandte der Beklagte den Entwurf und führte ergänzend in einem Begleitschreiben aus:
"Der Unterzeichner weist allerdings darauf hin, dass die Klage ein ganz erhebliches Prozessrisiko beinhaltet. Wir bitten daher nochmals, genau zu überdenken, ob die Klage wirklich erhoben werden soll. Im Falle der Erhebung der Klage kommen neben unseren Gebühren Gerichtsgebühren und Rechtsanwaltsgebühren auf der Gegenseite hinzu, die Sie im Falle des Unterliegens vollständig zu tragen hätten...
Schließlich stellt sich die Verjährungsproblematik, die der Unterzeichner bereits mehrfach angesprochen hatte. Bislang hat die Behörde (außergerichtlich) die Einrede der Verjährung nicht erhoben. Dies könnte aber im Prozess jederzeit noch geschehen. Voraussetzung dafür, um überhaupt eine Chance zu haben, über diesen Verjährungseinwand hinwegzukommen, wäre es, dass wir nachweisen können, dass Sie aus medizinischen Gründen nicht in der Lage waren, die Klage zu einem früheren Zeitpunkt zu erheben."
In dem sich anschließenden Verfahren vor dem Landgericht Essen wies dieses mit Beschluss vom 18. Juni 2013 (Anl. 7, AII 11-14) darauf hin, dass möglicherweise eine Hemmung der Verjährung in Betracht kommen könne, sofern sich die Klägerin innerhalb der letzten 6 Monate vor dem 31. Dezember 2006 bis durchgehend zum 17. November 2008 in einem psychischen Ausnahmezustand befunden habe, der es ihr unmöglich gemacht habe, sich für oder gegen die Durchsetzung eines Anspruchs zu entscheiden. Das Landgericht ging davon aus, dass entsprechend einer Entscheidung des OLG Karlsruhe (Beschluss vom 12. Juni 2001 - 7 W 17/01) die Hemmung der Verjährung für die Dauer des Ausnahmezustands andauere. Sodann erhob das Landgericht Beweis über di...