Verfahrensgang
LG Wuppertal (Urteil vom 17.04.2013; Aktenzeichen 5 O 144/11) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 17.4.2013 verkündete Urteil des Einzelrichters der 5. Zivilkammer des LG Wuppertal unter Zurückweisung des weiter gehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld i.H.v. 1.500 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.11.2010 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 77 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 23 % zu tragen.
Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Berufung des Klägers hat zum Teil Erfolg.
Der Kläger hat gegen die Beklagten gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 11 S. 2 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG einen Anspruch auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes i.H.v. 1.500 EUR, weil der Senat nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme davon überzeugt ist, dass der Kläger bei dem Verkehrsunfall vom 19.2.2010 eine HWS-Distorsion des Schweregrades I erlitten hat, welche zu den von ihm vorgetragenen Beeinträchtigungen geführt hat.
I. Die Frage, ob sich der Kläger bei dem Unfall überhaupt eine Verletzung zugezogen hat (sog. Primärverletzung), betrifft die haftungsbegründende Kausalität und unterliegt damit den strengen Anforderungen des Vollbeweises gem. § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO. Danach hat der Tatrichter unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht für wahr zu erachten ist. Die hiernach erforderliche Überzeugung erfordert indes keine absolute oder unumstößliche Gewissheit oder an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH NJW 2003, 1116; VersR 2008, 1133 mit weiteren Nachweisen). Steht fest, dass es unfallbedingt zu einer Primärverletzung gekommen ist, kommen dem Geschädigten für die Frage der haftungsausfüllenden Kausalität bezogen auf den Umfang der durch den Unfall entstandenen Schäden die Beweiserleichterungen des § 287 Abs. 1 ZPO zugute (BGH NJW 2004, 2828).
II. Soweit das LG den Nachweis einer Primärverletzung der Halswirbelsäule als nicht erbracht angesehen hat, ist der Senat an die erstinstanzliche Beweiswürdigung nicht gebunden, weil unter Zugrundelegung des vorgenannten Beweismaßstabs konkrete Anhaltspunkte bestehen, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Die Feststellungen des Senats führen zu dem Ergebnis, dass der Kläger bei dem Verkehrsunfall vom 19.2.2010 eine HWS-Distorsion des Schweregrades I erlitten hat, welche über einen Zeitraum von bis zu 6 Monaten zu Nacken- und Schulterschmerzen beim Bücken, Strecken und Heben, zu einer schmerzhaft eingeschränkten Rotation und Seitneigung der Halswirbelsäule sowie zu stechenden, teils schlagartigen Schmerzen mit Schwindelzuständen und Angst- und Panikattacken beim Treppensteigen geführt hat. Hierbei hat sich der Senat von folgenden Erwägungen leiten lassen:
1. Die auf der Grundlage des unfallanalytischen Gutachtens des Sachverständigen N. getroffenen Feststellungen des LG über die biomechanische Belastung des Klägers durch die streitgegenständliche Kollision werden mit der Berufung zwar nicht angegriffen, sind aber ersichtlich unvollständig.
a) Soweit die Berufung dem LG vorwirft, es orientiere sich zu nahe an der - vom BGH verworfenen - sog. Harmlosigkeitsgrenze, trifft dies nicht zu. Nach den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen Dr. V. liegen die Grenzen des "Toleranzbereichs", innerhalb dessen nach dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand bei dem am ehesten vergleichbaren Frontalaufprall Verletzungen der Fahrzeuginsassen in der Regel nicht aufträten, bei einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von etwa 20 km/h und einer Beschleunigung von etwa 5g. Obwohl bei isolierter Auswertung des Gutachtens des Sachverständigen N. nur eine Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit von 16,2 km/h und eine Beschleunigung von 3,8g sicher feststellbar waren (dazu s.u.), hat das LG es bei dieser Feststellung nicht bewenden lassen, sondern ein fachmedizinisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches - wenn auch mit erheblichen Defiziten (dazu s.u.) - auch die subjektive Anamnese des Klägers sowie dessen individuelle körperliche Konstitution in die Beurteilung einbezogen hat und vom LG auch in dieser Hinsicht gewürdigt worden ist.
b) Allerdings hat das LG bei seiner Beweiswürdigung völlig unberücksichtigt gelassen, dass nach dem Gutachten des Sachverständigen N. durchaus auch höhere biomechanische Belastungen von bis zu 20,9 km/h bzw. 5,4g auf den Kläger ...