Leitsatz (amtlich)
1. Der Führer eines Eisenbahnzuges (Triebfahrzeugführer) darf sich grundsätzlich darauf verlassen, dass Personen, die noch versuchen, einen im Anfahren begriffenen Zug zu erreichen, spätestens in dem Zeitpunkt davon ablassen, wenn er sich in Bewegung setzt.
2. Auch in der Phase nach Einleitung des Anfahrvorgangs ist ein Triebfahrzeugführer dazu verpflichtet, die Vorgänge am Zug zu beobachten. Nach dem Erreichen der Schrittgeschwindigkeit von 5 km/h besteht bis zum vollständigen Verlassen des Bahnsteigs/Bahnhofs für den Triebfahrzeugführer keine weitere Beobachtungspflicht.
Normenkette
BGB § 823; HaftpflG §§ 1, 47
Verfahrensgang
LG Düsseldorf (Aktenzeichen 13 O 412/95) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 7.4.2000 verkündete Urteil der 13. Zivilkammer des LG Düsseldorf wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Schmerzensgeld nach einem Unfall beim Anfahren einer S-Bahn.
Am Nachmittag des 18.1.1994 um kurz vor 17.00 Uhr kam die Klägerin von einer Probe des Jugend-Theaters im Schauspielhaus Düsseldorf auf ihrem Heimweg in Richtung Köln an den S-Bahnhof Düsseldorf Rath-Mitte. Sie hatte ein Engagement als Tänzerin für die Rolle der F. in dem Musical „W.S.”. Das Musical stand kurz vor der Premierenaufführung.
Als sie von der M.-straße aus kommend die Rampe zum Bahnsteig hochlief, stand die S-Bahn bereits im Bahnhof. Der Zug bestand aus vier Passagierwagen. Vorne und hinten war jeweils ein Triebfahrzeug angeschlossen. Es handelte sich um Wagen der sog. Gattung „N”, die etwa 30 Jahre alt waren.
Die Eingänge in den Zug bestanden aus zwei Drehfalttüren, die jeweils außen mit einer Klinke versehen waren. Die Drehfalttüren öffnen sich zu den Seiten des Eingangs und stehen in geöffnetem Zustand ein Stück weit nach außen vor. Außen vor dem Eingang sind zwei Trittstufen montiert. Es handelt sich um feste Stufen. Die dritte Stufe führt in den Waggon. Im geschlossenen Zustand werden die außen gelegenen beiden Stufen von innen mit einer roten Abdeckplatte verdeckt, die sich beim Schließen der Türen an beiden Seiten absenkt.
Die Drehfalttüren sind jeweils mit einer elektro-pneumatischen Schließeinrichtung versehen. Der Zugführer kann in jeder Tür an einem dafür vorgesehenen Schließkasten sämtliche anderen Türen verriegeln. Durch diese sog. „Schlüsselung” wird für jeweils 10 bis 15 Sekunden ein derart hoher Druck aufgebaut, dass die Türen nur noch mit erheblicher Krafteinwirkung geöffnet werden können. Hierdurch soll für die Anfahrtzeit des Zuges sichergestellt werden, dass die Türen nicht von unbefugter Seite geöffnet werden. Von innen wird zudem ab einer Geschwindigkeit von 5 km/h das Öffnen durch ein Magnetsystem verhindert, das die inneren Türhebel von der Türschließeinrichtung abkoppelt.
Als die Klägerin den Bahnsteig erreichte, war es trocken und noch hell. Es begann zu dämmern. Am vorderen Ende des Bahnsteigs, wo der Triebwagen stand, war ein Spiegel angebracht, durch den der Fahrzeugführer den überschaubaren Bahnsteig beobachten konnte. Der Zeuge S., der als Zugbegleiter („Zugführer”) in der S-Bahn war, befand sich an der hinteren Drehfalttür des dritten Waggons. Von diesem Standort aus konnte er die Rampe, die von der M.-straße zum Bahnsteig hochführt, einsehen. Seine Aufgabe war es, die übrigen Türen des Zuges über die Schließeinrichtung zu schließen, einen Achtungspfiff abzugeben und sodann dem Triebwagenführer durch Sichtzeichen mit der Kelle die Abfahrtbereitschaft des Zuges zu signalisieren. Sodann musste er die eigene Tür, die durch das Verschlüsseln nicht automatisch mitgeschlossen wird, per Hand zuziehen. Die Vorschrift verlangte es zudem, dass er sodann bei der Abfahrt noch einmal nachschlüsselt, um den Druck, der die Öffnung der Türen erheblich erschwert, für den Abfahrtvorgang noch einmal aufzubauen.
Der Beklagte war der Triebwagenführer des S-Bahnzuges.
Der Ablauf des Unfallgeschehens im Einzelnen ist zwischen den Parteien weitgehend streitig. Außer Streit steht, dass die Klägerin bei dem Versuch, in den zweiten Waggon einzusteigen, unter den Zug geriet.
Das rechte Bein war ihr im Bereich des Unterschenkels durchschnitten. Das linke Bein war im Bereich der Oberschenkelmitte abgetrennt. Aufgrund des ausgedehnten Weichteil- und Knochentraumas war ein Erhalt der Beine nicht möglich. Vielmehr mussten beide Stümpfe nachamputiert werden.
Ein zunächst gegen den Beklagten und den Zeugen S. eingeleitetes staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung wurde nach Abschluss der Ermittlungen am 2.11.1994 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
Die Klägerin hat behauptet, die Türen der S-Bahn seien noch geöffnet gewesen, als sie von der Rampe auf den Bahnsteig gekommen sei. In dem Moment, als sie die S-Bahn bestiegen habe, habe sich die Zugtür geschlossen. Sie sei noch vor dem Schließen der Tür in den Zug gekommen, nur ihre rechte Hand und ihr rechter Arm, über de...