Leitsatz (amtlich)
Zur Abwägung der Verursachungs-/Haftungsanteile für das Überfahren einer Trennlinie und das Überholen einer Fahrzeugkolonne, wenn der andere Verkehrsteilnehmer rückwärts aus einer Parklücke heraus fährt.
Verfahrensgang
LG Wuppertal (Entscheidung vom 25.06.2010; Aktenzeichen 5 0 58/10) |
Tenor
Unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels wird das am 25.06.2010 verkündete Urteil des Einzelrichters der 5. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger 5.305,06 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.10.2009 sowie weitere 325,46 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.03.2010 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 1/3 und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 2/3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Berufung des Klägers hat in der Sache teilweise Erfolg. Der Kläger kann von den Beklagten 2/3 seines Schadens ersetzt verlangen. Der Beklagten zu 1 hatte die höchsten Sorgfaltspflichten zu beachten. Er musste als Rückwärtsfahrer, und weil er von einem Grundstück in den fließenden Verkehr einfuhr, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen. Von diesen Sorgfaltspflichten war er auch nicht deshalb befreit, weil der Kläger nur unter Überfahrung der durchgezogenen Linie die vor ihm stehende Fahrzeugschlange überholen konnte. Vielmehr müssen der Rückwärts Fahrer und der aus einem Grundstück ausfahrende Verkehrsteilnehmer in Grenzen auch mit einem verkehrswidrigen Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer häufig vorkommender Verkehrsverstoß eingeordnet werden kann. Der Kläger muss sich dagegen vorhalten lassen, die durchgezogene Linie überfahren zu haben. Die Abwägung der Verursachungsbeiträge führt zu einer überwiegenden Haftung der Beklagten für die Unfallfolgen. Es war in erster Linie Sache des Beklagten zu 1 eine Kollision zu vermeiden. Dies rechtfertigt eine überwiegende Haftung der Beklagten von 2/3.
Im Einzelnen:
A.
Haftung dem Grunde nach
Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach folgt aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 VVG. Das Fahrzeug des Klägers ist beim Betrieb des Beklagtenfahrzeugs beschädigt worden. Der Unfall beruhte nicht auf höherer Gewalt. Der Beklagten hat den Unabwendbarkeitsnachweis des § 17 Abs. 3 StVG nicht geführt. Ein Idealfahrer hätte in der gegebenen Situation auch mit überholenden Fahrzeugen gerechnet.
Aber auch der Kläger haftet als Halter des unfallbeteiligten Opel Zafira nach § 7 Abs. 1 StVG für die Unfallfolgen. Auch für ihn beruhte der Unfall nicht auf höherer Gewalt. Die Kollision war für den Kläger auch nicht unvermeidbar im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG. Ein Idealfahrer hätte in der gegebenen Situation die Fahrzeugschlange nicht überholt.
Steht damit die Haftung beider Unfallbeteiligten fest, so hängt in ihrem Verhältnis zueinander die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Im Rahmen der Abwägung können zu Lasten einer Partei aber nur solche Tatsachen berücksichtigt werden, die unbestritten oder bewiesen sind (BGH NZV 1995, 145).
1.
Verursachungsbeitrag des Klägers
a.
Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 2 StVO
Ein Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 3 Nr. 2 StVO liegt nicht vor. Der Kläger hat die vor ihm haltenden Fahrzeuge zwar entgegen der Auffassung des Klägers überholt im Sinne von § 5 StVO. Überholen ist der tatsächliche, absichtslose Vorgang des Vorbeifahrens auf derselben Fahrbahn an einem anderen Verkehrsteilnehmer, der sich in derselben Richtung bewegt oder verkehrsbedingt in Fahrstellung wartet. Die vor dem Kläger befindlichen Fahrzeuge hatten verkehrsbedingt angehalten. Das Fahrzeug an der Spitze der Kolonne wollte dem Beklagten zu 1 die Ausfahrt aus der Parkbucht ermöglichen. Dabei kommt entgegen der Auffassung des Klägers der Dauer der verkehrsbedingten Stockung keine Bedeutung zu. Selbst ein mehrstündiges Anhalten vor einer Grenzschranke ist noch ein verkehrsbedingtes Anhalten (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage, § 5 StVO Rn. 16). Der von Klägerseite vorgetragene Zeitraum von 60 Sekunden führt daher keinesfalls zu einer Bewertung des klägerischen Verhaltens als Vorbeifahren im Sinne von § 6 StVO.
Dieses Überholen war aber erlaubt. Überholen ist nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 StVO nur unzulässig, wo es durch Verkehrszeichen 276 oder 277 verboten ist. Die durchgezogene Linie (Zeichen 295) ist dort nicht genannt. Sie enthält auch kein Überholverbot (BGH NJW-RR 1987, 1048; OLG Düsseldorf VRS 62, 302). Die Linie verbietet nicht das Überholen schlechthin, sondern - im Interesse des Gegenverkehrs - das Hinüberwechseln auf die linke Fahrbahn.
b.
Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO
Das Überholen des Klägers war auch ni...