Leitsatz (amtlich)

1. Der gynäkologische Befund einer Gebärmuttersenkung und einer Cystocele rechtfertigt nur dann einen operativen Eingriff (Hysterektomie und Kolporrhaphie), wenn zugleich eine Beschwerdesymptomatik vorliegt, die auf diesen Befund zurückzuführen ist. Bestehen bei einer Patientin urologische Probleme, ist es zwingend notwendig, vor der gynäkologischen Operation eine urologische Diagnostik vorzunehmen, um das Krankheitsbild, die Indikation für den Eingriff sowie dessen spezielle Art abzuklären.

2. Unterbleiben diese zur Klärung und Sicherung der Indikation zweifelsfrei durchzuführenden urologischen Untersuchungen, ist es Sache des Arztes zu beweisen, daß die unterlassene Diagnostik ein operationspflichtiges Ergebnis erbracht hätte.

3. Nach einem Eingriff zur Behebung einer Beckenbodeninsuffizienz ist es zur Vermeidung einer Blasenüberdehnung unumgänglich, postoperativ tägliche Messungen der spontan als auch über einen Katheter abgegebenen Harnmengen durchzuführen.

4. Normalisiert sich die Blasenentleerung einer Patientin postoperativ nicht binnen eines Zeitraumes von zwei bis drei Wochen, ist seitens des Gynäkologen unverzüglich ein Facharzt für Urologie einzuschalten, um den Grund für die Miktionsstörung abzuklären und die Therapie zu bestimmen.

 

Verfahrensgang

LG Duisburg (Urteil vom 17.06.1999; Aktenzeichen 8 O 279/97)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 17. Juni 1999 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung teilweise abgeändert und wie folgt neu gefaßt:

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 50.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 20. August 1997 zu zahlen.

Die auf Zahlung eines höheren Schmerzensgeldes gerichtete Klage wird abgewiesen.

Die auf den Ersatz materieller Schäden gerichtete Leistungsklage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle weiteren materiellen Schäden zu ersetzen, die diese aufgrund der Behandlung im E Krankenhaus durch den Beklagten im Zusammenhang mit der am 28. Dezember 1994 durchgeführten Operation (vaginale Hysterektomie mit Kolphorrhapie) erlitten hat und noch erleiden wird, soweit kein Rechtsübergang auf Dritte stattgefunden hat bzw. stattfindet.

Zur Entscheidung über die Höhe des mit der Leistungsklage geltend gemachten materiellen Schadensersatzanspruches wird die Sache an das Landgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu befinden hat.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Zwangsvollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 57. 000 DM abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Die Sicherheiten können auch durch Bürgschaft einer deutschen Bank oder Sparkasse erbracht werden.

 

Tatbestand

Die am 7. Mai 1997 geborene Klägerin, die als Leiterin einer Filiale der Firma M tätig war, würde am 11. Dezember 1999 als Kassenpatientin in den E und J K D aufgenommen. Nach der in der Dokumentation der medizinischen Klinik dieses Krankenhauses enthaltenen Anamnese litt die Patientin bis zu fünf Wochen vor der Aufnahme über einen Zeitraum von sechs Wochen über Schmerzen und Brennen beim Wasserlassen. Sie klagte außerdem darüber, dass sie wenige Tage vor der stationären Aufnahme sich steigernde Schmerzen in der linken Leiste mit zunehmender Ausstrahlung in die linken Flankenregion verspürt habe; außerdem bestand seit 29 Stunden massive Übelkeit mit Erbrechen. Seitens der Ärzte der internistischen Abteilung wurde eine linksseitige Pyelonephritis (Nierenbeckenentzündung) diagnostiziert. Am 19. Dezember erfolgte ein gynäkologisches Konsil; der Beklagte, der als Oberarzt der gynäkologischen Abteilung des E Krankenhauses D tätig war, stellte eine Senkung der Gebärmutter und der vorderen Scheidenwand (Cystocele) fest. Der Beklagte gelangte zu der Diagnose, dass Ursache der Nierenbeckenentzündung ein aszendierender Harnwegs- und Blaseninfekt sei, der durch Blasenentleerungsstörungen und Restharnbildung infolge der Gebärmuttersenkung hervorgerufen worden sei. Er empfahl der Patientin eine Entfernung der Gebärmutter mit vorderer und hinterer Scheidenraffung. Am 27. Dezember 1999 unterzeichnete die Klägerin eine in einem "Merkblatt zum Aufklärungsgespräch mit dem Arzt/der Ärztin über Operationen bei Senkung (bzw. Vorfall) und Harninkontinenz" enthaltene Einwilligung zur Operation. In diesem Perimedbogen wird bezüglich der möglichen Risiken darauf hingewiesen, dass nach Senkungsoperationen vorübergehende Schwierigkeiten bei der Blasenentleerung und Harnwegsinfektionen häufig seien, die normale Zeit des Krankenhausaufenthaltes aber für die Behandlung solcher Störungen meist ausreiche.

Der ärztliche Vermerk zum Aufklärungsgespräch in diesem Merkblatt enthält die handschriftliche Eintragung:

"Risiken: Verletzungen und Nachoperationen, Harnblasen-, Darm-, Harnleiter-, Gefäßverletzungen, Thrombosen, Embolien,...

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