Leitsatz (amtlich)
1. Das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach § 5 FGG kann von Amts wegen eingeleitet werden, wenn das dafür zuständige Gericht von einem Zuständigkeitsstreit bezüglich einer notwendigen Amtshandlung in Kenntnis gesetzt wird.
2. Eine "Ungewissheit" i.S.d. § 5 Abs. 1 FGG ist in verfassungskonformer Auslegung ausnahmsweise auch bei rechtlicher Unsicherheit anzunehmen, wenn durch eine rechtzeitige Klärung der Zuständigkeitsfrage sonst nicht vermeidbaren Verlängerungen der Freiheitsentziehung entgegengewirkt wird.
3. Zuständiges AG nach § 33 Abs. 2 HSOG ist dasjenige, in dessen Bezirk die Person vor der Vorführung festgehalten wird, nicht dasjenige, in dessen Bezirk sie zuvor ergriffen wurde.
Normenkette
FGG § 5; HSOG § 33 Abs. 2
Gründe
I. Anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006, bei der Spiele in Frankfurt am Main ausgetragen werden, trifft die Polizei Vorsorge für den Fall, dass eine größere Anzahl von Personen in Gewahrsam genommen werden muss, und richtet dafür Sammelstellen an mehreren Orten in Hessen ein, u.a. in den Bezirken der AG Frankfurt, Gießen, Kassel und Wiesbaden. Unter mehreren AG und innerhalb der Richterschaft dieser Gerichte sind Meinungsverschiedenheiten darüber aufgetreten, ob das gem. § 33 HSOG zuständige AG dasjenige ist, in dessen Bezirk der Person die Freiheit erstmals entzogen wurde, oder dasjenige, in dem sich die Sammelstelle befindet, in die die Person verbracht wurde. Der Präsident des AG Kassel hat mitgeteilt, dass die Richter seines Bezirks mehrheitlich die zuerst genannte Auffassung verträten, und hat am 29.5.2006 beim OLG die Einleitung eines Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens nach § 5 FGG erbeten. Der Präsident des AG Wiesbaden hat bekannt gegeben, dass im Kreis der für den Bereitschaftsdienst eingeteilten Richter diese Ansicht einhellig geteilt werde. Demgegenüber haben sich die Präsidenten der AG Frankfurt und Gießen der letztgenannten Auffassung angeschlossen, die auch das Hessische Ministerium des Innern und für Sport teilt. Der Präsident des AG Gießen hat bekannt gegeben, eine Minderheit der Richter seines Gerichts vertrete jedoch eine abweichende Meinung. Der Präsident des AG Frankfurt, der sich der Anregung des Präsidenten des AG Kassel auf Zuständigkeitsbestimmung angeschlossen hat, hat den Senat davon in Kenntnis gesetzt, dass die Richter/Richterinnen des AG Frankfurt/M. einhellig der Auffassung seien, dass es für die gerichtliche Zuständigkeit nicht darauf ankomme, wo der Betroffene - erstmals - ergriffen worden sei, sondern darauf, wo er sich im Zeitpunkt der Befassung des Gerichts durch Antragstellung der Polizei zur Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über die Gewahrsamnahme befinde.
II.1. Der Senat ist für die Einleitung des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens nach § 5 FGG zuständig. Das Verfahren kann nicht nur auf Anrufung eines Verfahrensbeteiligten oder durch Vorlage eines Gerichts eingeleitet werden, sondern auch von Amts wegen, wenn der Senat als gemeinsames oberstes Gericht von einem Zuständigkeitsstreit bezüglich einer notwendigen Amtshandlung in Kenntnis gesetzt wird, wie dies hier durch Anzeige des Präsidenten des AG Kassel und in der Folge durch die Stellungnahmen der beteiligten AG geschehen ist (vgl. Senat, Beschl. v. 12.8.2002 - 20 W 233/02, NJW-RR 2002, 1611; Jansen, 2. Aufl. 1969, § 5 FGG Rz. 18 m.w.N.; Bumiller/Winkler, 8. Aufl. 2006, § 5 FGG Rz. 9; Bassenge/Herbst/Roth, 10. Aufl. 2004, § 5 FGG Rz. 6; Keidel/Sternal, 15. Aufl. 2003, § 5 FGG Rz. 46).
Die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen der Senat eine Zuständigkeitsbestimmung treffen kann, liegen vor.
"Streit" i.S.d. § 5 Abs. 1 FGG erfordert zwar, dass sich zwei Gerichte in einer vorliegenden Angelegenheit gegensätzlich zur örtlichen Zuständigkeit abschließend geäußert haben, der Streit darf sich nicht auf eine erst künftig entstehende Angelegenheit beziehen (OLG Hamm Rpfleger 1969, 19; Jansen § 5 FGG Rz. 6; Keidel/Sternal § 5 FGG Rz. 20). Daran fehlt es, weil konkrete streitige Verfahren noch nicht anhängig sind, es nicht einmal gewiss ist, ob solche anhängig werden.
"Ungewissheit" i.S.d. § 5 Abs. 1 FGG ist gegeben, wenn die Tatsachen ungeklärt bleiben; als nicht genügend wird eine rechtliche Unsicherheit bei klarem Sachverhalt, wie sie hier allein in Betracht kommt, angesehen (OLG Oldenburg Rpfleger 1963, 297, 298; KG OLGR 1, 137, 138; Jansen § 5 FGG Rz. 7; Bumiller/Winkler § 5 FGG Rz. 4; Keidel/Sternal § 5 FGG Rz. 27; Bassenge/Herbst/Roth § 5 FGG Rz. 3).
Der Senat tritt jedoch dem OLG Hamm (Beschl. v. 9.5.2006 - 15 Sbd 5/06) darin bei, dass das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren bei der hier gegebenen Situation eröffnet ist. Bei der vorliegend zu beurteilenden drohenden Freiheitsentziehung ist es ausnahmsweise gerechtfertigt, den Begriff der Ungewissheit in den rechtlichen Bereich hinein auszudehnen, weil anderenfalls die Gefahr bestünde, dass sich Richter an den AG Gießen, Kassel und Wiesbaden für die Entscheidung über die Fortdauer der Freiheitsentziehung f...