Leitsatz (amtlich)

Sieht ein Tatgericht ein Attest nicht als genügende Entschuldigung an und verwirft daraufhin die Berufung, so begründet es die Revision, wenn der wesentliche Inhalt des ärztlichen Attestes nicht mitgeteilt wird.

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Entscheidung vom 11.03.2015)

 

Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Gießen zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Amtsgericht Gießen hat den Angeklagten und den Mitangeklagten pp. am 10.10.2013 wegen versuchten Diebstahl zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt. Dagegen haben die Angeklagten und die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Das Landgericht Gießen hat mit dem angefochtenen Urteil die Berufung der Angeklagten gemäß § 329 StPO ohne Verhandlung zur Sache mit der Begründung verworfen, dass die ordnungsgemäß geladenen Angeklagten ohne genügende Entschuldigung nicht zur Hauptverhandlung erschienen seien.

Hiergegen richtet sich der Angeklagte mit seiner statthaften, auch form- und fristgerecht eingelegten und gleichermaßen begründete Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

Die Revision dringt mit der Verfahrensrüge durch.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat in ihrer Stellungnahme vom 22.09.2015 insoweit folgendes ausgeführt:

"Die gegen das nach § 329 StPO ergangene Verwerfungsurteil allein statthafte Verfahrensrüge halte ich i.S.d. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO für hinreichend ausgeführt und deshalb für zulässig.

An die zur Geltendmachung der unrichtigen Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO erforderliche Verfahrensrüge als sog. "unsubstantiierte Rüge" sind nach der Rechtsprechung des angerufenen Senats ohnehin keine strengen Anforderungen zu stellen (vgl. OLG Frankfurt am Main -1 Ss 113/10-; OLG Düsseldorf VRS 78, 138). Es reicht aus, dass geltend gemacht und - so nicht bereits im Urteil eine Erörterung mitgeteilten oder sonst bekannt gewordenen Entschuldigungsvorbringens enthalten ist - unter Tatsachenvortrag dargelegt wird, das Ausbleiben des Angeklagten sei tatsächlich entschuldigt gewesen bzw. jedenfalls, das Gericht habe das Ausbleiben des Angeklagten nicht als unentschuldigt beurteilen dürfen (OLG Frankfurt am Main -1 Ss 113/10-; -1 Ss 210/09- m.w.N.).

Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründungsschrift gerecht. Bereits aus der in der Begründungsschrift wiedergegebenen Urteilsbegründung geht hervor, dass dem Landgericht in der Hauptverhandlung am 11.03.2015 ein ärztliches Attest für den Angeklagten vom 04.03.2015 vorlag. Darüber hinaus ist in der Begründungsschrift aber auch der vollständige Inhalt der deutschen Übersetzung des vorgelegten Attest wiedergegeben, mit dem dem Angeklagten bescheinigt wird, dass er aus medizinischer Sicht nicht an der Verhandlung teilnehmen könne. Schließlich enthält die Revisionsbegründung Ausführungen dazu, dass das Landgericht ohne Überprüfung des Attestes im Freibeweisverfahren dieses als nicht ausreichende Entschuldigung angesehen habe. Eines weitergehenden Vortrags bedurfte es zur Bejahung der Zulässigkeit der erhobenen Verfahrensrüge m.E. nicht.

Die erhobene Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht wird, dass Berufungsgericht habe bei seiner Verwerfungsentscheidung den Begriff der genügenden Entschuldigung i.S.d. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO verkannt, ist m.E. auch begründet.

Sieht ein Tatgericht ein Attest nicht als genügende Entschuldigung an und verwirft daraufhin die Berufung, so begründet es die Revision, wenn der wesentliche Inhalt des ärztlichen Attestes nicht mitgeteilt wird (OLG Frankfurt am Main StV 1988, 100). Ein Verwerfungsurteil muss nämlich so begründet sein, dass das Revisionsgericht die maßgebenden Erwägungen des Gerichts nachprüfen kann; insbesondere müssen etwa vorgebrachte Entschuldigungsgründe oder sonstige als Entschuldigung in Betracht kommende Tatsachen wiedergegeben und gewürdigt werden. Nur dann vermag das Revisionsgericht nachzuprüfen, ob das Gericht das Rechtsmittel rechtsirrtumfrei verworfen hat (OLG Frankfurt am Main -1 Ss 210/09-; KG StV 1987, 9). Das folgt auch daraus, dass das Revisionsgericht bei der Prüfung, ob das Gericht den im § 329 StPO enthaltenen Rechtsbegriff des unentschuldigten Fernbleibens verkannt hat, nach herrschender Meinung grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil gebunden ist. Die unterlassene Erörterung wäre allenfalls dann unschädlich, wenn die mitgeteilten Umstände ganz offensichtlich ungeeignet gewesen wären, das Ausbleiben des Angeklagten zu entschuldigten (OLG Frankfurt am Main -1 Ss 256/08-; -1 Ss 210/09- m.w.N.).

Um dem Senat eine vollständige Überprüfung der Entscheidung zu ermöglichen, wäre es daher vorliegend erforderlich gewesen, den wesentlichen Inhalt des Attestes vom 04.03.2015 (vollständig) in den Urteilsgründen mitzuteilen. Das Landgericht hat sich jedoch darauf beschränkt, einzelne (vermeintli...

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